- Christiane Woopen, geboren 1962 in Köln, ist Ärztin und Medizinethikerin.
- Sie berät NRW-Ministerpräsident Armin Laschet seit Anfang April im „Expertenrat Corona“.
- Im Interview spricht sie die Versäumnisse der Politik, den Verzicht auf Karneval und die Verteilung eines möglichen Impfstoffes.
Frau Woopen, viele Virologen betonen derzeit, sie seien nicht die besseren Politiker – ihr Blick beschränke sich auf das Medizinische. Wie ist es bei Ihnen als Medizinethikerin?
Ähnlich. Die Ethik formuliert moralisch relevante Maßstäbe und Regeln. Dazu muss sie verstehen, worum es geht und dafür auf Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften zurückgreifen. In dieser Pandemie sind alle – Wissenschaftler, Politiker und Bürger – mit tiefen ethischen Konflikten etwa zwischen Gesundheit und Freiheit konfrontiert. Die Ethik wird dadurch spürbar relevanter, das letzte politische Wort hat sie jedoch keineswegs.
Welche Instrumente hat die Ethik, um Handlungsempfehlungen zu geben?
Mein Ansatz geht von den grundlegenden Rechten und Freiheiten aus sowie von unseren gemeinsamen Werten in Europa. Die Europäische Union hat sich in der Charta der Grundrechte den universellen Werten der Freiheit, Gleichheit und Solidarität verpflichtet, fußend auf der Würde des Menschen. Diese Werte müssen auch in der Corona-Pandemie wesentlich bleiben. Das ist mein Ausgangspunkt.
Wie lässt sich nun etwa der Verzicht auf den Karneval ethisch in Relation setzen zur gesundheitlichen Bedrohung?
Die Freiheit, Karneval zu feiern, ist als Teil des kulturellen Lebens in Köln ein hohes Gut. In einer Abwägung mit dem fundamentalen Gut der Gesundheit und des Lebens ist es aber unter den derzeitigen Umständen ethisch gerechtfertigt, wenn nicht sogar geboten, dass Politiker verlangen, den Karneval nicht wie gewohnt zu feiern. Erstens wird damit ein hochrangiger Zweck verfolgt. Zweitens kann man durch die Vermeidung von Großveranstaltungen mit üblicherweise hohem Alkoholkonsum zahlreiche Infektionen verhindern – die Maßnahme ist sogar erforderlich. Und schließlich ist ein solcher einmaliger Eingriff meines Erachtens weniger einschneidend als ein dauerhafter gesundheitlicher Schaden im Leben vieler Menschen.
Gerichte folgen im Zweifelsfall einer ähnlichen Logik, wenn sie entscheiden, ob politische Eingriffe zulässig sind. Ist Ihre politische Beratung auch juristischer Natur?
Das kann sie sein, das Verhältnis von Ethik und Recht ist jedoch komplex. Nicht alles, was ethisch wünschenswert ist, kann rechtlich festgeschrieben werden. Andersherum müssen sich Recht und Politik immer auch an ethischen Maßstäben messen lassen. Beim ethischen Nachdenken geht es um die Frage, ob das Ziel einer Handlung gut und das dazugehörige Mittel ethisch vertretbar ist. Im Fall des Nicht-Feierns also: Ja und ja.
Wie lässt sich herausfinden, ab welchem Punkt das Feiern nicht vertretbar ist?
Hier ist die Ethik wieder auf viele Informationen und andere Wissenschaften angewiesen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung? Sind Gesundheitsämter überfordert? Droht eine unkontrollierbare Situation? Wie viele Intensivbetten stehen zur Verfügung? Welche Schutzmaßnahmen sind möglich? Es muss bei einer solchen Frage sehr konkret werden, damit Ethik an der allgemeinen Orientierung mitwirken kann.
Wurden die politischen Entscheidungen in den vergangenen Monaten nach ethischen Maßstäben gefällt?
Im Prinzip ja, aber mir fehlt trotzdem etwas. Die Politik scheint mir im Modus des situativen Reagierens festzustecken. Ein stärker in die Zukunft gerichtetes, konzeptionelles Denken fehlt mir. Die Bevölkerung braucht ein konkretes Bild, wie das gesellschaftliche Leben in ein paar Monaten aussehen soll und kann. Und sie sollte beim Malen dieses Bildes beteiligt sein. Es ist leichter, Einschränkungen in Kauf zu nehmen, wenn man das Ende des Tunnels sieht und eine Vorstellung davon hat, wie man dorthin kommt. Ein Beispiel sind die Schnelltests: Gute Schnelltests wären an vielen Orten sehr hilfreich. Mit ihnen könnte man sogar Konzerte, Feiern und Restaurantbesuche in einem ganz anderen Umfang ermöglichen. Man sollte also alles dafür tun, diese Tests in ausreichender Menge zu entwickeln und zu produzieren. Dieses Ziel müsste deutlich kommuniziert werden, gerade jetzt, wo es heißt, dass nicht mehr so viel getestet werden soll, weil die Kapazitäten an Grenzen stoßen. Ein anderes Beispiel sind FFP-2-Schutzmasken, die wir eigentlich fast flächendeckend brauchen, oder Luftreinigungsgeräte. Alle denkbaren Maßnahmen können zusammen, wie bei einem Puzzle, das angesprochene Bild ergeben.
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Wie muss sich die Politik auf die Zulassung eines Impfstoffes vorbereiten?
Die Verteilung eines Impfstoffes muss sich selbstverständlich nach biomedizinischen Kriterien richten, aber nicht nur. Zentral sind, wie bei allen Verteilungsfragen, auch gesellschaftliche Aspekte wie soziale Ungleichheit. Wir sehen, dass die Krise die Schwächeren deutlich härter trifft. Wenn es zum Beispiel um Impfungen an Schulen geht, sollte man Schulen in sozial prekärer Lage bevorzugen.
Die vorgeschlagene Impf-Strategie des Deutschen Ethikrates, der Ständigen Impfkommission und der Leopoldina berücksichtigt diesen Aspekt nicht.
Unter den vielen wichtigen Maßnahmen, die empfohlen werden, fehlt mir das. Es gibt einen weiteren Aspekt, über den noch diskutiert werden sollte. Der Empfehlung zufolge soll die Hochrisikogruppe für schwere und tödliche Verläufe mit zuerst geimpft werden. Der Gedanke ist richtig, aber diese Gruppe ist keineswegs einheitlich: Es gibt vorerkrankte Menschen, die mitten im Leben stehen und viele Menschen treffen, und es gibt sehr alte Menschen, die bettlägerig im Pflegeheim versorgt werden. Während die Impfung der ersten Gruppe sehr hilfreich wäre, könnte letzteren ein konsequentes Testen ihrer Besucher besser helfen. Stattdessen könnten dann junge Menschen schneller geimpft werden.
Die EU hat sofort einen Vertrag mit den Firmen Biontech und Pfizer ausgehandelt. Halten Sie das für sinnvoll, wenn es um eine gerechte globale Verteilung geht?
Ja, durchaus. Die Europäische Kommission hat von vorneherein gesagt, dass sie die Dosen nicht nur für Europa kauft, sondern sich auch in der globalen Verantwortung sieht.
Wie kompliziert wird die Verteilung innerhalb von Europa werden?
Der Impfstoff soll unter den Mitgliedstaaten Stand jetzt nach Bevölkerungsanteilen aufgeteilt werden. Das wäre unkompliziert. Rein formal verstehe ich dieses Kriterium, es wird dem Anspruch gerecht, dass jeder Mensch gleich viel wert ist. Inhaltlich habe ich dennoch Einwände, weil ich eine bedarfsgerechte Verteilung wichtig finde. Die jeweilige Bevölkerungsstruktur und unterschiedlich aufgestellte Gesundheitssysteme machen diese Krise für einige Länder schwerer als für andere. Das gilt es zu berücksichtigen.
Ihnen fehlt es an Differenzierung?
So ist es. Mein Anliegen ist, dass sowohl medizinische, als auch wirtschaftliche und soziale Aspekte berücksichtigt werden. Dass medizinische Fragen in einer Pandemie zuerst in den Fokus rücken, liegt nahe. Doch die Folgen betreffen alle Lebensbereiche. Die Weltbank sagt, dass mehr als 150 Millionen Menschen infolge der Pandemie in extreme Armut stürzen können. Das bedeutet: Sie haben täglich weniger als 1,90 Dollar an Einkommen zur Verfügung. Das ist eine soziale Katastrophe von globaler Tragweite, aus der wiederum gesundheitliche Probleme entstehen.
Sollte einmal genug Impfstoff zur Verfügung stehen, wird sich die Frage stellen, ob genug Menschen bereit sind, sich auch impfen zu lassen. Ansonsten droht der Effekt zu verpuffen.
Eine frühe, gute, wissenschaftlich fundierte Kommunikation sollte alle erreichen, sodass sich jeder eine begründete Meinung bilden kann. Das sieht auch die Bundesregierung so. Es wird außerdem entscheidend sein, ständig die Chancen und Risiken der Impfung zu beobachten. Geplant ist etwa eine App, in der Nebenwirkungen eingetragen und zentral gesammelt werden können. Und natürlich brauchen wir eine fortlaufend aktuelle, transparente Berichterstattung.
Brauchen wir auch Immunitätsausweise?
Es ist noch zu wenig über das Ausmaß und die Dauer einer impfbedingten Immunität bekannt, als dass ein solcher Ausweis ausgestellt werden könnte. Zudem ist nicht klar, ob geimpfte Menschen trotzdem noch andere anstecken können. Ein Ausweis nach durchgemachter Infektion könnte dazu verleiten, sich anzustecken, damit man danach die Vorteile genießen kann. Insgesamt bringt der Ausweis mehr Probleme als Lösungen. Perspektivisch denkbar wäre er für bestimmte Personengruppen wie etwa die Gesundheitsberufe.
Eine Impfung hilft nur dann, wenn sich ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt impfen lassen möchte. Was, wenn nicht?
Dann sollte man die öffentliche Kommunikation anpassen und verstärken. Eine Impfpflicht käme jedenfalls aus meiner Sicht nur als allerletzte Maßnahme infrage, wenn nichts anderes verfügbar wäre, um die Bevölkerung wirksam zu schützen.