Kontrolliertes TrinkenKönnen Alkoholiker auch halbtrocken sein?
Für Alkoholsucht galt lange: Wer nicht zur Abstinenz bereit war, hatte kaum eine andere Möglichkeit, trocken zu werden. Doch in der Therapie von Alkoholikern werden nun neue Wege beschritten. Erstmals wird auch als Therapieziel anerkannt, weniger zu trinken. Seit Anfang September ist in Deutschland ein Medikament zugelassen, das dabei helfen soll, den Alkoholkonsum zu reduzieren. Das Mittel enthält den Wirkstoff „Nalmefen“, der die Zufuhr von Dopamin beim Alkoholtrinken stoppen soll. Dopamin ist einer der Botenstoffe im Gehirn, die für das Entstehen von Glücksgefühlen zuständig sind. Ohne Dopamin wird der Wohlfühleffekt beim Trinken gestoppt, der den Reiz von Alkohol ausmacht.
Verpflichtende Begleittherapie
Zu der Einnahme des Medikaments soll es eine verpflichtende Begleittherapie geben, in der die Patienten psychologisch unterstützt werden. Dadurch, erhoffen sich Suchtexperten, kann die Einnahme des Medikaments längerfristig zu einem reduzierten Alkoholkonsum führen, weil die Betroffenen sich aktiver mit ihrer Krankheit auseinandersetzen müssen. Vom Hersteller wird die Anwendungsdauer des Medikaments allerdings nur für sechs bis zwölf Monate angegeben.
Die Zulassung des Medikaments mit dem Wirkstoff Nalmefen beruht auf zwei Studien mit mehr als 1300 Testpersonen. Die Hälfte der Testpersonen bekam ein Placebo verabreicht, die andere Hälfte den richtigen Wirkstoff. Beide Studien hätten gezeigt, dass die Wirkstoffgruppen einen deutlich verringerten Alkoholkonsum aufwiesen, teilweise bis zu 60 Prozent. Doch auch die Placebogruppe reduzierte ihren Konsum. „Das liegt vor allem an der begleitenden Beratung“, sagt Professor Karl Mann, Leiter des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. Er sieht deshalb in der psychosozialen Beratung einen großen Gewinn. „Durch die obligatorische Begleittherapie wird das Ziel der Alkoholreduktion im Auge behalten“, sagt der Suchtexperte.
Therapie des „kontrolliertes Trinkens“
Neu ist der Weg, das Trinken einzuschränken anstatt es zu verbieten, allerdings nicht. Vertreter der Therapie des „kontrollierten Trinkens“ versuchen seit fast 20 Jahren, die Regeln zu lockern und Alkoholabhängigen einen Mittelweg zwischen totaler Abhängigkeit und Abstinenz zu ermöglichen. Die Therapie wurde in den 1960er Jahren in den USA und Australien entwickelt. Der Psychologe Joachim Körkel brachte sie Ende der neunziger Jahre nach Deutschland. Wo der Ansatz, dem Alkohol nicht komplett abzuschwören, lange auf große Skepsis stieß.
Auch Professor Mann war lange skeptisch gegenüber dem kontrollierten Trinken eingestellt. Mittlerweile hat er selbst Studien zum Thema veröffentlicht. Ihn haben die Erfolge überzeugt, die mit der Methode erzielt werden. Allerdings stört ihn der Name: : „Reduziertes Trinken würde besser passen. Kontrolliertes Trinken impliziert, dass man nicht nur den Konsum, sondern auch die Sucht unter Kontrolle hat, möglicherweise sogar geheilt ist. Doch für Sucht gibt es kein Heilmittel.“ Und trotz der positiven Ergebnisse hofft Mann, dass die meisten Patienten am Ende doch zur Abstinenz gelangen. „Reduziertes Trinken ist im Idealfall der Einstieg in den Ausstieg.“ Und es sei die beste Möglichkeit, auch solche zu erreichen, die sich von Abstinenz abschrecken ließen oder keine gewöhnliche Therapie machen wollten.
Wie die Therapie des „kontrollierten Trinkens“ funktioniert und wie wenige Alkoholabhänigige tatsächlich einen Enzug wagen, lesen Sie auf der nächsten Seite.
Beim kontrollierten Trinken steckt sich jeder seine eigenen Ziele. Die Therapieform bietet mehrere Programme an. Es gibt Gruppenbehandlungen, Einzeltherapie oder ein 10-Schritt Selbstlernprogramm. Dadurch werden viele Alkoholsüchtige erreicht, die sich scheuen, eine Therapie zu machen, die auf Entzug und Abstinenz setzt. Die Patienten führen ein Trinktagebuch, damit sie ein Gefühl für ihren Alkoholkonsum entwickeln. Die Therapien sind ambulant und freiwillig. Wie viel Hilfe und Unterstützung man braucht, bestimmt jeder selbst.
Ernüchternde Statistiken
Der neue Weg in der Alkoholtherapie scheint in Anbetracht der Statistiken durchaus sinnvoll. Die Zahlen der Drogenbeauftragten der Bundesregierung zeigen, dass über 9,5 Millionen Deutsche Alkohol in gesundheitlich riskanter Form konsumieren. Gut 1,8 Millionen gelten als alkoholabhängig. Nur rund zehn Prozent der Abhängigen begeben sich in Therapie – oftmals erst nach vielen Jahren der Abhängigkeit. Und auch bei diesen zehn Prozent ist die Rückfallrate extrem hoch. Nach einer Entgiftung bleiben gerade einmal 20 Prozent länger als zwölf Monate abstinent.
Ein neuer Behandlungszweig öffnet sich
Mit dem reduzierten Trinken, ob mit der Unterstütztung eines Medikaments oder ohne, eröffnet sich ein weiterer Behandlungszweig. Das zeigen die Erfahrungen, die Professor Mann gemacht hat. Wenn jemand versucht, seine Trinkgewohnheiten zu reduzieren, setzt er sich mit seiner Sucht auseinander. Er wird aber nicht direkt als Alkoholiker abgestempelt – ein Stigma, das viele davon abhält, eine Therapie zu machen. Für rund 70 Prozent der Menschen, die sich bei Mann in Mannheim in Behandlung für kontrolliertes Trinken begeben, ist es die erste Berührung mit einer Suchttherapie. „Dieser Mittelweg scheint attraktiv zu sein. Die Schwelle ist niedriger“, sagt Mann.
Dennoch ist die Skepsis vieler Suchtexperten gegenüber der neuen Therapieform nicht gewichen. Denn sie birgt auch Risiken. Längst nicht jedem kann die Methode helfen. „Bei zu schweren Fällen, die möglicherweise bereits seit Jahrzehnten trinken, ist Abstinenz oft die einzige wirksame Methode vom Alkohol wegzukommen“, sagt Mann. Und bereits abstinenten Trinkern rät er eindringlich, die Finger vom reduzierten Trinken zu lassen.