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Arzt gab ihr drei WochenEine Frau erzählt über ihr Sterben: „So gesehen ist da mehr Leben in mir als jemals“

Lesezeit 6 Minuten
Verena Welschof sitzt zuhause an einem Esstisch und lächelt in die Kamera. Sie sieht frisch und gut aus.

Verena Welschof, die 2023 die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhalten hat, wird bald sterben. Gerade deshalb wirbt sie für Lebensfreude und Mut.

Drei bis sechs Wochen Lebenszeit prognostizierte ihr der Hausarzt. Aber Verena Welschof sagt auch eineinhalb Jahre später: „Ich bin noch nicht weg.“ Eine Geschichte über das Weiterleben.

Drei Tage im Juni wie eine Achterbahnfahrt in die Tiefe. Rasend, durchschüttelnd, das Herz katapultiert sich in den Kopf. Am Donnerstag offenbart der Ultraschall: Pankreaskarzinom, Lebermetastasen. Am Freitag reisen die Kinder von überall her an, am Samstag stellt Verena Welschof ihrer Familie einen genauen Ablaufplan für ihre Beerdigung vor. Auf der Traueranzeige ein Bild einer Frau auf dem Fahrrad, sie radelt zum Horizont, freihändig. In der evangelischen Kirche soll ein katholischer Pfarrer den Gottesdienst halten. Es singt der Chor Cantamus Kierspe: Ubi Caritas. Die Zeit zur Planung drängt. Drei bis sechs Monate geben ihr die Statistiker. Drei bis sechs Wochen, sagt der Hausarzt.

„Heute weiß ich, dass ich durch meinen Aktionismus meine Ohnmacht bekämpfen wollte. Mein Verstand war glasklar. Ich wollte einen Rest Kontrolle behalten.“ Verena Welschof, 64, sitzt in ihrem Wohnzimmer am Rande des Sauerlands am Esstisch. Die blonde Perücke ist tadellos frisiert, die hellblauen Augen leuchten im Winterlicht. Sie hat Kaffee gemacht, auf dem Tisch stehen Kekse, im Regal drängeln sich die Buchrücken durch weite Teile der deutschen Literaturgeschichte, auf dem Klavier stapeln sich Weihnachtsgeschenke, ganz oben thront ein Bild der ganzen Familie: Verena Welschof und ihr Mann Klaus recken ihre Köpfe über die der drei Enkelkinder, eingerahmt werden sie von den beiden Söhnen sowie der Tochter und dem Schwiegersohn. Alle strahlen.

Verena Welschof lacht mit offenem Blick in die Kamera. Hinter ihr ist ein volles Bücherregal zu sehen.

Verena Welschof: „Es ist da eine Schatzkiste voller Leben in mir, die ich jederzeit aufschließen kann.“

Wer das Leben von hinten durchblättert, der entdeckt darin oft viel Schönheit. Das liegt vielleicht nicht einmal daran, dass der milde Geist die schlechten Tage ausblendet. Entscheidend ist, dass da überhaupt mal jemand aufmerksam auf die Seiten guckt, die vorwärts gelebt oft unbeachtet im Daumenkinomodus an uns vorbeirauschen. Und Welschof blättert von hinten. Denn Verena Welschof wird sterben, wahrscheinlich sehr bald.

Bauchspeicheldrüsenkrebs gehört zu den aggressivsten Krebsarten, hat er gestreut, besteht keinerlei Hoffnung auf Heilung. „Es ist so ein Reichtum, den ich erlebt habe. Mir ist so viel Gutes widerfahren.“ Eine Kindheit und Jugend im frohsinnigen Aachen. Eine Jugendliebe, die nun schon 45 Jahre währt. Ein Studium der Medizin, drei Kinder, ein Haus, viele Freunde, so viele Begegnungen, Frühschwimmen im Freibad, die Musik, drei Enkel, Reisen, der Karneval und Welschof singt lauthals: Solang wir noch am Leben sind. „Ich habe das alles Revue passieren lassen in den vergangenen eineinhalb Jahren: Es ist da eine Schatzkiste voller Leben in mir, die ich jederzeit aufschließen kann.“

Die Frage nach dem Warum stelle sie sich nicht. Sollte sie sich dennoch mal aufdrängen, würde ihr Welschof im inneren Monolog sehr knapp entgegnen: „Wir leben in einer unperfekten Welt.“ Im Angesicht der eigenen Endlichkeit hat sie zu einer radikalen Ehrlichkeit gefunden. Zum Mut, Missstimmungen anzusprechen. „Ich sage, was ich denke. Was soll mir jetzt noch passieren?“ Sie artikuliert, dass sie es bedauert, wegen der Kinder Jobangebote als Ärztin ausgeschlagen, statt auf geteilte Fürsorgearbeit bestanden zu haben. Wenn ihr Ehemann Klaus mathematischen Fakten mal wieder den Vorrang vor Emotionen einräumt, hält sie nun streitbar dagegen. „Es hat uns einander nähergebracht.“

Ich suche das Glück im Kleinen mit dem Fernglas und mit der Lupe
Verena Welschof

Es wäre nicht richtig, die Dinge schönzureden. Welschof hat 38 Chemotherapien hinter sich. Sie wirken palliativ, Ziel des Gifts, das über einen Port an der Schulter in ihren Körper strömt, ist also nicht mehr die Heilung, es geht darum, die Lebensqualität möglichst lange zu erhalten. Übelkeit, Durchfall, Schmerzen, Erschöpfung. Es gibt diese Tage: Welschof sitzt mit einer Mütze auf dem kahlen Kopf im Ledersessel im Wohnzimmer und dämmert vor sich hin, lässt sich von Netflix berieselt. The good Doctor. Grübelt über das, was sie nach dem Tod erwartet, bedauert, fürchtet sich, heult Rotz und Wasser. Aber sie rappelt sich auch immer wieder auf. „Ich suche das Glück im Kleinen mit dem Fernglas und mit der Lupe.“ Sie hat es geschafft, zehn Wochen nach der Diagnose zur Hochzeit ihres jüngsten Sohnes nach Griechenland zu reisen. Ein Wille, der das bösartige Wuchern in ihrem Körper zumindest für eine Weile in die Schranken weist. Ein Fest in den Bergen unweit Thessalonikis, der Himmel blau. Welschof trägt ein tailliertes, dunkelblaues Kleid, auf den Fotos lacht sie. Den Rollstuhl hat sie zu Hause gelassen. „Ich sah super aus.“ Die Überlebensprognose ihres Hausarztes hatte sie da schon gerissen.

38 Chemotherapien wirken palliativ

Welschof hat mit der Moderatorin Gisela Steinhauer, einer Jugendfreundin, ein Buch über ihr Sterben geschrieben. Steinbruch dafür waren Mails, die Welschof nach der Diagnose über einen Mailverteiler an Freunde und Familienmitglieder verschickte. „Es hat mir unglaublich geholfen, die Dinge zu verarbeiten. Ich konnte ein Stück Abstand gewinnen. Es von außen ansehen.“ Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich von allen Freunden, die ihren Lebensweg kreuzten, zu verabschieden. Unheimlich viel Besuch reise deshalb seit einigen Monaten nach Meinerzhagen. Aber Welschof hat sich auch selbst aufgemacht, nach Frankreich und Wien zum Beispiel.

Wer sich mit dem Tod beschäftigt, dem erscheint das Leben ja gerade umso wertvoller
Verena Welschof

Aber es ist nicht so, dass Welschof nur zurückblättert. „Ich bin noch nicht weg“ steht dann da auch auf dem Cover. Da gibt es auch noch unbeschriebene Seiten weiter hinten, die sie mit Leben füllen will. Denn: „Wer sich mit dem Tod beschäftigt, dem erscheint das Leben ja gerade umso wertvoller. So gesehen ist da mehr Leben in mir als jemals.“ Weihnachten in Mainz bei der Tochter, alle Kinder und Enkel werden auch da sein. Vielleicht wird sie Wein trinken oder sogar Eierlikör, den mag sie besonders. Lesungen aus ihrem Buch im Januar. Ein Hotelurlaub in Ägypten zusammen mit ihrem Mann im Februar. Viele letzte Male werden darunter sein. „Aber gerade das macht sie natürlich noch wertvoller.“

Und dann natürlich die Proben bei Chor Cantamus Kierspe. Welschof im Alt. Sie singt dort seit vielen Jahren. Das Weihnachtsoratorium habe man schon aufgeführt, zuletzt im September war es „Die Schöpfung“. Für dieses Mal hat sich Ehemann Klaus entschlossen, auch mitzusingen. Der Maschinenbauingenieur im Tenor. Geübt wird das Requiem von Brahms. Die jährlich große Aufführung ist für den kommenden November geplant. Welschof sagt: „Als man ihn fragte, warum er diesmal mitsinge, sagte er: Es ist das Requiem für meine Frau.“

Den fertig ausgearbeiteten Beerdigungsablauf hat Welschof mittlerweile entsorgt und die Planung in die Hände ihres Mannes und der Kinder gelegt. Sie seien es, die aus dem Abschied Kraft schöpfen müssten. Brahms hätte das gefallen. Auch er wollte mit seinem Werk in erster Linie den Hinterbliebenen Trost spenden. Ein Requiem für das Weiterleben.


Buchcover „Ich bin noch nicht weg“

„Ich bin noch nicht weg“ ist erhältlich über Books on Demand.

Welschof und Steinhauer lesen aus ihrem Buch an folgenden Terminen:

24.⁠ ⁠Januar 2025, 19 Uhr, Bücherstube am Rathaus in Stolberg

30.⁠ ⁠Januar 2025, 19 Uhr, Gut Vinkenpütz in Pulheim Stommeln

18.⁠ ⁠Februar 2025, 19 Uhr, Fass-Schmiede Iserlohn

7.⁠ ⁠März 2025, 19 Uhr, Lions Club Hamm, Mitgliederoase der Volksbank Hamm