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Ein ErfahrungsberichtMarathon laufen – So fühlen sich 42,195 Kilometer an

Lesezeit 10 Minuten
Runners start at the Berlin Marathon in Berlin, Germany, Sunday, Sept. 29, 2024. (AP Photo/Ebrahim Noroozi)

Der Berlin Marathon am 29. September (Symbolbild)

42,195 Kilometer laufen – wer tut sich das freiwillig an? Unser Autor zum Beispiel, der dieses Jahr seinen ersten und wohl auch letzten Marathon absolvierte.

„Was mache ich hier eigentlich?“, dachte ich mir, als ich umgeben von Athletinnen und Athleten am Wettkampftag hinter der Startlinie stand. Stefan, Muscleshirt, polarisierte Sonnenbrille, kein Gramm Fett, sieht aus, als würde er sein Leben lang schon Marathons laufen. Anna schnackt kurz vor dem Start an der Seitenlinie fröhlich mit ihren Freundinnen, die sie heute anfeuern werden. Claudia grinst unter ihrer Tennis-Kappe wie eine Katze, der man gerade die Schlüssel zur Molkerei übergeben hat. Und ich stehe daneben und habe Schiss.

Die Nacht vor dem Wettkampf war grauenvoll. Ich verspeiste am Abend meine Pasta – ein letztes Ritual am Vorabend des Laufs – und wollte mich gerade noch auf dem Sofa ausruhen, bis sich mein Gehirn die schädlichste Frage stellt, die es in diesem Moment gibt. Schaffe ich das überhaupt?

Ich verbrachte die Nacht damit, im Internet Antworten auf diese Frage zu finden. Durch Forenbeiträge finde ich heraus, dass die Nacht vor dem ersten Wettkampf vielen zu schaffen macht. Plötzlich zweifelt man daran, ob das Training ausreicht, ob man fit genug ist. Ich habe Angst, vor allen Zuschauenden schlappzumachen, mich zu verletzen oder noch schlimmer: einen Herzinfarkt zu bekommen. Ich blättere durch meinen Trainingsplan. Alles durchgehalten, bis auf einige Tage, an denen ich wegen Erkältung aussetzen musste. Aber selbst die aufmunternden Worte meiner Frau nützen nichts: Ich liege stundenlang wach und frage mich, ob ich überhaupt antreten sollte.

42,195 Kilometer – wer hat sich diesen Mist überhaupt ausgedacht?

„Natürlich trittst du an“, sagte meine Frau am nächsten Morgen. Sie kennt es schon, wenn ich an mir selbst zweifele. Ich will ihr erklären, dass ich dieses Mal aber doch berechtigte Gründe habe. Drei Stunden Schlaf reichen doch nicht – und was ist, wenn ich den Trainingsplan die ganze Zeit falsch verstanden habe und gar nicht fit genug bin? Wir waren schon mit der Bahn an der Zielhaltestelle in Hannover angekommen, als ich endgültig realisierte, dass meine Frau mich nicht aufgeben lässt. Ich werde diesen Marathon laufen. „Okay, aber ich laufe so langsam wie möglich“, sagte ich ihr. Es ist gut, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, wie es mir nach dem Marathon gehen würde.

Am Startort angekommen, konnte ich die gute Laune aller Läuferinnen und Läufer kaum ertragen. Bin ich wirklich der Einzige, der diesen Ort hasst? Klar, Sonnenschein, eine angenehme Temperatur, gute Musik: Es gibt sicherlich schlimmere Bedingungen für einen Marathon. Aber es können sich doch nicht ernsthaft alle auf 42,195 Kilometer freuen. Das trotzige Kind in mir fragt sich, wer sich diesen Mist überhaupt ausgedacht hat.

Es geschah ausgerechnet in meiner zweiten Heimat England, wie ich bei meinem nächtlichen Doomscrolling durch Google erfuhr. 1908 wollte man sich bei den Olympischen Spielen in London erst auf 42 Kilometer festlegen – vom Schloss Windsor bis zum Olympiastadion. Und als wäre das noch nicht genug, fügte unsere damalige königliche Hoheit Alexandra noch mal 195 Meter hinzu, damit das Rennen direkt unter ihrer Loge im Olympiastadion endet. Danke dafür, Eure Majestät.

Runner’s High, Taylor Swift, Bierwitze: Was Marathoni motiviert hält

Startschuss. Meine Frau winkt mir noch ein letztes Mal zu, bevor ich loslaufe. Im Hintergrund höre ich die Zuschauenden, wie sie alle Marathonläuferinnen und Marathonläufer – auch Marathoni genannt – anfeuern. Über meine Kopfhörer starte ich meine Playlist, die mich die nächsten Stunden bei Laune halten soll. Passend zum Start läuft Taylor Swifts Song „...Ready for It?“. Die Mischung aus allem ist genau das, was ich brauche, um meine Stimmung zu heben. Ich hätte es Stunden zuvor nicht für möglich gehalten, aber ich bin motiviert.

In den ersten Kilometern muss ich dann dabei zuschauen, wie etliche Läuferinnen und Läufer an mir vorbeiziehen. Wer sich mal wie eine lahme Schnecke fühlen möchte: Hier geht es besonders gut. Ab und zu hätte ich gern mal nach hinten geschaut, um nicht den Eindruck zu bekommen, dass ich als Letztes im Ziel eintrudeln werde. Doch ich wollte mir selbst treu bleiben. Mir ging es nicht um irgendeine Zeit, ich wollte einfach ins Ziel. Ich trainierte für eine Zielzeit von vier Stunden und 30 Minuten – eine angemessene Zeit für Menschen, die regelmäßig joggen, aber noch nie an einem Rennen teilnahmen, wie ich hörte. Ich wollte nur noch dieses Rennen packen. Einmal und nie wieder.

Für einen Sport, dem oft nachgesagt wird, er sei langweilig, sind viele Zuschauende zum Rennen gekommen. Wobei bei über 26.000 Teilnehmenden wahrscheinlich mehr Freundinnen, Freunde und Familienangehörige unter ihnen sind als begeisterte Marathonfans. Trotzdem jubeln sie für alle Athletinnen und Athleten. Wenn man ihren mitgebrachten Schildern glaubt, haben alle Marathoni denselben Humor: „Bier in 40 Kilometern“ oder „Mach mal schneller, das Bier wird warm“. Einige Läuferinnen und Läufer jubeln zu den Bierwitzen, mich hätte man dagegen eher mit einem Bild meines Bettes motivieren können. Die Aussicht auf eine halbe Banane und einen Becher Wasser, die ich mir alle paar Kilometer von den Ständen abhole, hilft aber auch.

Kilometer 13. Ich erlebe einen Zustand, von dem ich schon viel hörte, den ich aber noch nie gespürt habe: den Runner‘s High, eine Art Rauschzustand beim Laufen. Fast ein Drittel des Rennens ist durch und auf einmal fühle ich mich so, als könnte mich nichts mehr stoppen. Die Stimmung ist großartig. Reihenweise klatschen junge Kinder meine Hand ab, jubeln mir zu, in meinen Ohren ertönt Punk Rock, gefolgt vom nächsten Taylor-Swift-Song. Mein Körper, der Lauf, die Sonne auf meinem Gesicht – alles fühlt sich fantastisch an. Ich lege einen Zahn zu und grinse verschmitzt, als ich Katharina überhole, die mich einige Kilometer zuvor frech hinter sich gelassen hat. Nimm das! Mein neu gewonnener Kampfgeist erinnert mich daran, warum ich überhaupt diesen Wettkampf so sehr wollte.

Laufen ist langweilig? Von wegen

Mit dem Laufsport ist es so: Manche lieben ihn, viele verachten ihn. Wie oft ich schon „boah neeeee, ich hasse laufen“ gehört habe, wenn ich Menschen fragte, ob sie meine Leidenschaft dafür teilen. Stundenlang geradeaus zu laufen, klingt tatsächlich nicht nach dem spannendsten Sport. Als Mensch, der schon viele Sportarten ausprobiert hat, kann ich aber sagen: Ich kann bei keinem Sport so gut abschalten wie beim Joggen. Fußball war immer mit Stress verbunden: Man muss stets konzentriert sein und auf die Technik sowie auf das Team und die Gegner achten. Beim Laufen kann ich mich in Ruhe auf die Natur fokussieren und dabei meine Lieblingsmusik hören. Alle Probleme spielen in dieser Zeit keine Rolle. Es ist quasi eine Art der Entspannung – bei der ich zusätzlich meinen Körper fit halte.

Seit zwölf Jahren gehe ich regelmäßig joggen und in dieser Zeit hatte ich immer mal wieder den gleichen Neujahrsvorsatz gehabt: einen Marathon laufen. Das ergibt doch Sinn, dachte ich mir immer. Ich laufe gern und mag eine gute Challenge. Über die Jahre hinweg versuchte ich oft, für einen Marathon zu trainieren, gab aber immer wieder auf. Einen Trainingsplan durchzuhalten, wenn man ohnehin schon viel um die Ohren hat, ist hart – das kennen sicherlich viele. Und dann waren da immer die verflixten 42,195 Kilometer, die mir unbeschreiblich lang vorkamen. Wenn ich schon nach 14 Kilometer schwere Beine habe, wie soll dann erst das Dreifache davon für mich enden?

Ich würde es im Jahr 2024 herausfinden. Diesmal war der Neujahrsvorsatz nicht nur ein Neujahrsvorsatz: Er war ein verbindliches Ziel. Vielleicht motivierte mich mein drohender 30. Geburtstag im Jahr darauf – denn ich wollte immer so gern noch in meinen Zwanzigern einen Marathon laufen. Vielleicht half auch die Tatsache, dass ich schon Freunden, Arbeitskolleginnen und Familienmitgliedern von meinem Plan erzählte – und ich mich nicht blamieren wollte, indem ich doch aufgebe. Ich weiß es nicht genau. Irgendetwas bewog mich dazu, drei Monate lang einen intensiven Trainingsplan durchzuhalten und als Belohnung – oder Bestrafung? – einmal im Kreis durch Hannover zu laufen.

Der große Traum vom Sofa

Kilometer 21. Die Hälfte ist geschafft! Ich dachte immer, dass das der schwierigste Moment im Rennen sein wird. Denn jetzt müssen Marathoni wie ich dabei zuschauen, wie alle Halbmarathon-Teilnehmenden jubelnd ins Ziel rennen, während alle anderen die gleiche Strecke noch mal laufen dürfen. Es ist kaum zu glauben, aber ich habe tatsächlich Lust darauf. Mein Training hat sich ausgezahlt, ich fühle mich fit und bin auf Kurs, meine Zielzeit von vier Stunden und 30 Minuten zu schaffen. Ein Blick aufs Handy, und ich sehe eine Nachricht meiner Frau: „Du hast die Hälfte schon geschafft, ich bin stolz auf dich.“ Sie möchte mich gleich auch vor Ort anfeuern. Mehr Motivation brauche ich nicht. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt niemals gedacht, dass meine Euphorie zwölf Kilometer später enden würde.

Ich erreiche die sogenannte Mauer. Nein, ich bin nicht gegen eine echte Mauer gerannt. Aber es fühlt sich so an. Meine Beine sind inzwischen schwer und egal, was ich mache, ich kann mein Tempo einfach nicht aufrechterhalten. Ich hörte zuvor schon von dem Phänomen und verstehe es erst jetzt so richtig. Meine Frau jubelt mir zu, doch sie sieht nur ein gequältes Gesicht. Ein Mädchen hält ein Schild in die Höhe: „Jetzt umzukehren, wäre schon ziemlich bescheuert“. Ja, wäre es. Ich kann in den letzten zehn Kilometern nicht aufgeben.

Die motivierteren Marathoni in meiner Umgebung träumen bestimmt gerade vom guten Gefühl, in wenigen Kilometern das Ziel erreicht zu haben. Ich träume nur noch vom Sofa. Ernsthaft: Noch nie war der Gedanke schöner, einfach vor sich hin zu vegetieren und eine belanglose TV-Serie zu glotzen. Bei Kilometer 35 merke ich, dass ich deutlich langsamer vor mich hin trabe. Zu allem Überfluss überholt mich Läuferin Katharina ein weiteres und letztes Mal. Schon gut, du hast gewonnen. Angeberin.

Als Trauerkloß ins Ziel

Vier Kilometer vor dem Ziel lege ich meinen letzten Boxenstopp ein. Denn jedes Mal, wenn ich mein Tempo reduziere, um einen Schluck Wasser zu trinken, wird es schwieriger, das Tempo wieder anzuheben. Mein rechtes Knie schmerzt, ich bin erschöpft, gequält, bedient. Und dennoch weiß ich, dass ich es schaffen werde. Ich bin kein Biertischwetten-Läufer, der diesen Lauf unterschätzt hat. Mein monatelanges Training hat sich bereits ausgezahlt. Ich muss es nur noch ins Ziel schaffen.

Einen Kilometer vor der Ziellinie geben meine kabellosen Kopfhörer den Geist auf – Taylor Swift wird mich nichts ins Ziel begleiten. Die Zuschauenden feuern mich so an, als würde ich gleich bei der Fußball-Weltmeisterschaft den entscheidenden Elfmeter für ihr Land schießen. Ich habe keine Gefühle mehr außer Schmerz und Erschöpfung. Die Medaille, die ich gleich tragen werde, meine Frau, die mich umarmen wird: Nichts kann meine Laune noch heben. Im Fernsehen sieht man immer Läuferinnen und Läufer, die voller Elan und mit hochgestreckten Armen ins Ziel rennen. Doch als ich die Ziellinie überquere, sieht man einen Trauerkloß. Nach vier Stunden, 46 Minuten und 57 Sekunden habe ich es geschafft – und bin es auch.

Als der größte sportliche Erfolg meines Lebens mich zum Weinen brachte

Mit der Medaille um den Hals laufe ich nach Hause. Ich bewege mich ungefähr so dynamisch wie der Blechmann vom „Zauberer von Oz“. Dann sehe ich den schönsten Ort der Welt: mein Sofa. Ich lege mich hin und warte auf meine Frau, die gerade noch mit dem Fahrrad nach Hause fährt. Es ist still. Plötzlich realisiere ich, was ich gerade geschafft habe. Ich bin einen Marathon gelaufen. Zweiundvierzig Kilometer und hundertfünfundneunzig Meter. Der größte sportliche Erfolg meines Lebens.

Die nächsten Tage werde ich kaum laufen können und unendlich hungrig sein. Monate danach werde ich stolz auf diese Leistung sein und mir sicher sein, dass ich nie wieder einen Marathon laufen würde. Doch das alles weiß ich jetzt noch nicht. Für einen Moment fühle ich mich erleichtert und glücklich. Und dann breche ich in Tränen aus.

Es sind keine Freudentränen. Ich weine, weil mir bewusst wurde, dass ich vor dem Marathon nie daran geglaubt habe, dass ich es wirklich schaffen werde. Ich weine, weil ich weiß, wie viele Menschen auch an sich selbst zweifeln – bestimmt ging es auch meinen Marathon-Mitstreitenden Anna, Claudia, Katharina und Stefan schon mal so in ihrem Leben. Ich weine, weil ich so oft selbst mein größter Kritiker bin.

So fühlt sich ein Marathon an.