Chronische Fatigue und Long-Covid„Betroffene vegetieren im Bett dahin"
Köln – Der Karfreitag 2015 hat sich tief in Inka Daniels-Haardts Gedächtnis gegraben. Da kam ihrem Sohn Max, damals 31, die letzte Kraft zum Aufstehen abhanden. Bis heute ist der 38-jährige Diplom-Physiker aus Haltern am See bettlägerig, verlässt seine Schlafstätte nur einmal am Tag, wenn seine Mutter ihn mit dem Rollstuhl zum WC fährt.
„Für Max ist alles eine riesige Anstrengung, jedes Handzeichen, jeder Drei-Worte-Satz, den er in sein Handy tippt, jeder Seitenwechsel, jedes Geräusch und manchmal auch das Tageslicht“, sagt Inka Daniels-Haardt. „Es ist, wie wenn ein Anlasser dauerzündet, der Motor aber nicht anspringen will.“ Und dazu führte, „dass Max mit Anfang 30 aus seinem Leben gerissen wurde.“
Chronisch unerforschte Erkrankung
Max Haardt leidet unter einer seit Langem beschriebenen, auch nicht seltenen, aber chronisch unerforschten Erkrankung, die allerdings durch die Corona-Pandemie stärker in den Fokus der Medizin rückt: ME/CFS, dieser ungewöhnliche Name steht für „Myalgische Enzephalomyelitis und Chronisches Fatigue-Syndrom“.
Betroffenenverbände und die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS monieren, dass der Begriff oft nur mit Müdigkeit in Verbindung gebracht wird, und damit dazu beiträgt, die Erkrankung zu stigmatisieren und zu verharmlosen. Laut einer dänischen Studie haben Menschen mit ME/CFS, verglichen mit anderen chronischen Erkrankungen, die niedrigste Lebensqualität, niedriger als an Krebs oder Multipler Sklerose Erkrankte. Dabei handelt es sich um eine Multisystemerkrankung, die unter anderem das Nerven-, Immunsystem und den Energiestoffwechsel betrifft. Neben der charakteristischen, langanhaltenden Erschöpfung nach Belastung kann ME/CFS Beschwerden wie starke Kopf- und Muskelschmerzen, Fieber, geschwollene Lymphknoten, Konzentrations-, Wortfindungs-, Denkstörungen, Schwindel oder Herzrasen hervorrufen.
Vor Ausbruch der Pandemie schätzte man die Zahl der ME/CFS-Patienten hierzulande auf 250.000 bis 300.000, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche, Frauen sind dreimal häufiger als Männer betroffen. „Es ist damit zu rechnen, dass sich diese Zahl aufgrund des Corona-Virus' mindestens verdoppeln wird“, sagt der ME/CFS-Experte Herbert Renz-Polster.
500.000 Betroffene mehr durch Corona
Verschiedene Studien zeigen: Ein Drittel bis die Hälfte aller Long-Covid-Erkrankten entwickeln eine ME/CFS. „Rechnet man das auf die Gesamtbevölkerung um, können wir von mindestens 500.000 zusätzlichen Betroffenen ausgehen“, prophezeit Renz-Polster. ME/CFS war schon vor der Pandemie ähnlich weit verbreitet wie Multiple Sklerose, für die es zahlreiche Medikamente, Therapieansätze, flächendeckend Fachleute und Spezialambulanzen gibt. Nicht so für ME/CFS.
Eine leise humanitäre Katastrophe
Der Experte Josef Lösch bezeichnet die ME/CFS vor dem Hintergrund der eklatanten Versorgungs- und Forschungslücken auch als „die vielleicht leiseste humanitäre Katastrophe vor der eigenen Haustüre“. Leise auch deshalb, weil jede und jeder vierte Erkrankte das Haus nicht mehr verlassen kann, viele sind wie Max Haardt bettlägerig und auf Pflege angewiesen, für die sich außer den Angehörigen niemand zuständig fühlt, schätzungsweise 60 Prozent sind arbeitsunfähig. Renz-Polster: „Viele Betroffene vegetieren von der Gesellschaft und der Medizin vergessen hinter zugezogenen Vorhängen dahin."
Schuld daran ist auch die Tatsache, dass „ein viel zu geringer Teil der Ärzteschaft mit dem Krankheitsbild vertraut ist, weshalb wir von enorm vielen Unter- und Fehldiagnosen ausgehen, allen voran Burn-Out, Depression oder andere psychosomatische und psychiatrische Diagnosen.“ Weil kaum Forschungsgelder fließen, weiß man zu wenig über die Genese, geschweige denn über mögliche Therapien. Finden Mediziner in Routinetests keine Auffälligkeiten, „stecken sie die Patienten oft in die psychische Schublade, und tragen dazu bei, dass sie dramatisch falsch therapiert werden", mahnt Renz-Polster und erklärt auch gleich warum.
Clash nach geistiger und körperlicher Anstrengung
Ein Leitsymptom der Krankheit sei nämlich, dass körperliche und geistige Anstrengung den Zustand verschlechtere. Post-Exertional Malaise sagen Fachleute dazu, Betroffene nennen es kurz „Crash", Zusammenbruch. Wenn nun die Beschwerden der Betroffenen als psychisch bedingt eingeordnet werden, folgen oft die klassischen Kur- und Reha-Maßnahmen, also Bewegung, Sport und intensive psychotherapeutische Gespräche. All das aber ist für ME/CFS-Patienten kontraproduktiv. „Jede Überlastung kann die Krankheit massiv verschlimmern, oft sogar dauerhaft", sagt Renz-Polster.
Stattdessen müssten die Betroffenen das so genannte Pacing lernen, also sparsam mit ihren minimalen Energiereserven umzugehen und selbst nach den kleinsten Anstrengungen ausreichend Pausen einzubauen. „Hätte Max frühzeitig von diesem Energie-Management erfahren, wäre er wahrscheinlich nicht so schwer erkrankt", mutmaßt Inka Daniels-Haardt. Renz-Polster gibt ihr Recht: „Wenn man Pacing und weitere symptomorientierte Ansätze von Anfang an beherzigt, ist zumindest eine deutliche Besserung über die Zeit möglich. Aber auch Pacing kann nicht verhindern, dass die Krankheit vor allem bei Erwachsenen meist lebenslang bestehen bleibt. Kinder und Jugendliche haben oft eine bessere Prognose."
Berufsunfähig und bettlägerig mit 31 Jahren
Zwar hat die Weltgesundheitsorganisation WHO ME/CFS schon 1969 als neurologische Erkrankung eingestuft, dennoch taucht sie bis heute in kaum einem Uni-Lehrplan auf. Die Folgen der daraus resultierenden Ahnungslosigkeit hat auch Inka Daniels-Haardt, die selbst Medizin studiert hat, schmerzlich erfahren. Als sie ihren Sohn bei seinem jahrelangen Ärztemarathon begleitete.
Das könnte Sie auch interessieren:
Mit Mitte 20 verliert Max stetig an Energie, Konzentrationsfähigkeit und Belastbarkeit, Schlafstörungen und starke Schmerzen häufen sich, so wie das Bedürfnis nach Erholung. Noch während der zehrenden Suche nach einer Diagnose bei Allgemeinärzten, Endokrinologen, Kardiologen, Rheumatologen, Neurologen und Schlafmedizinern, schließt er sein Physikstudium mit Diplom ab und beginnt seinen ersten Job „unter ungeheurer Anstrengung", wie seine Mutter sagt. Bis die dringend benötigten Ruhephasen sich nicht mehr mit den Arbeitszeiten vereinbaren lassen. Max wird, 31-jährig, berufsunfähig.
Fachzentren, Verbände und Selbsthilfe
In der Berliner Charité leitet Prof. Carmen Scheibenbogen das Charité Fatigue Centrum, wo auch eine CFS-Sprechstunde angeboten wird.
Professor Uta Behrends leitet an der Münchner Klinik Schwabing das MRI Chronische Fatigue Centrum (MCFC) für junge Menschen.
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS ist ein gemeinnütziger, unabhängiger Verein, der die Interessen von ME/CFS Betroffenen vertritt und sich an die medizinische Fachöffentlichkeit richtet.
Das ME-CFS Portal ist eine Inline-Selbsthilfegruppe für Menschen, die an ME/CFS oder Long Covid erkrankt sind.
Die Deutsche Fatigue Gesellschaft (DFaG) hat sich zum Ziel gesetzt, die Ursachen von Fatigue zu erforschen und moderne Behandlungskonzepte zu entwickeln.
Der Fatigatio e.V. ist eine Patientenorganisation für ME/CFS-Erkrankte.
Die Patienteninitiative Long COVID Deutschland führt auf ihrer Homepage eine Liste mit Post-COVID-Ambulanzen innerhalb Deutschlands.
„Jahrelang konnte niemand eine organische Ursache finden, Max' Laborwerte waren stets jungfräulich, also schob man seinen Zustand auf die Psyche“, sagt Inka Daniels-Haardt. Und erzählt von einem Arzt, der, als er mit seinem Latein am Ende war, meinte, Max sei nur auf die Frührente aus. Ein Psychiater unterstellte ihr, sie wolle gar nicht, dass ihr Sohn gesund wird, um ihn in Abhängigkeit zu halten. Andere Ärzte sind nicht dazugekommen, kränkende Worte auszusprechen, da sie Max gar nicht erst zu Gesicht bekamen: „Wenn Sie nicht dazu bereit sind, sich in meine Praxis zu bewegen“. Da war Max schon bettlägerig.
Nur zwei Fachzentren für ME/CFS in Deutschland
Da niemand Max auch nur einen Namen für seine Beschwerden geben kann, begibt er sich selbst auf die Suche nach einer Diagnose. Findet sie im Internet. Und mit ihr auch eine Anlaufstelle: Die Berliner Charité beherbergt neben der Kinderklinik München-Schwabing eine der zwei einzigen Fachambulanzen für ME/CFS in ganz Deutschland. Doch beide können aufgrund des enormen Andrangs heute nur Patienten aus der Region aufnehmen. Max wird dort während eines ambulanten Aufenthalts im Jahr 2013 bestätigt, dass er an MC/CFS erkrankt ist. „Das war enorm wichtig für uns, denn ohne die Diagnose hätte Max bis heute keine Berufsunfähigkeitsrente, keine Pflegestufe fünf", sagt Inka Daniels-Haardt. Das Problem: Es gibt für MC/CFS keine eindeutigen Biomarker, die die Krankheit anzeigen. Der ist das Berliner Experten-Team mit einem aufwendigen Diagnoseverfahren auf die Spur gekommen.
Alleingelassen mit der Pflege
Inka Daniels-Haardt, die erst seit einem Jahr im Ruhestand ist, pflegt Max gemeinsam mit ihrem Mann. Seit sieben Jahren. Im eigenen Zuhause. Rund um die Uhr. Ein Pflegedienst scheitert an festen Zeiten und Routinen, die nicht kompatibel sind mit Max' Erkrankung. Mal schläft er bis acht, mal bis elf, wenn die Nacht für ihn wieder Horror war, und er Erholung braucht. „Am schlimmsten aber ist die Hilflosigkeit, nichts tun zu können, außer für Nahrung und Hygiene zu sorgen, die Bettdecke hoch- und runterzuziehen, die Vorhänge auf und zu, das ist kaum auszuhalten", sagt Inka Daniels-Haardt. Und schweigt. „Ich bin jetzt 68, was ist in zehn Jahren?"
Nicht vollständig geklärt sind die Auslöser von ME/CFS, meist tritt sie nach Infekten wie dem Pfeifferschen Drüsenfieber, nach einer Grippe oder eben Covid 19 auf. Neuere Studien deuten darauf hin, dass das Immunsystem Betroffener nach einer Virus-Infektion im Krisenmodus bleibt und nicht mehr runterfährt. Dabei spielen vermutlich auch Antikörper gegen körpereigene Rezeptoren eine Rolle, die den Kreislauf und das Immunsystem regulieren.
Medikament BC007 macht Hoffnung
Ein in Erlangen erforschtes Medikament namens BC007, das diese Antikörper neutralisieren soll, könnte Inka Daniels-Haardt Perspektive geben. Renz-Polster fordert, wie alle Betroffenenverbände, dass dessen Zulassung nun im Eiltempo auch von der Politik forciert wird. Um in zwei statt in zehn Jahren auf dem Markt zu sein.
Es gibt Hoffnung, auch dank Long Covid, so makaber es klingen mag. „Denn in Folge der Pandemie sind so viele Menschen in kurzer Zeit an ME/CFS erkrankt, dass die Versorgungs- und Forschungslücken offensichtlich geworden sind", sagt Renz-Polster. Schon im Koalitionsvertrag der Ampel steht, dass ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen geschaffen werden soll, um ME/CFS und die Langzeitfolgen von Covid weiter zu erforschen. Gerade hat die Regierung beschlossen, fünf Millionen Euro für Therapieforschungsprojekte bereitzustellen. Renz-Polster: „Fünf Millionen sind immerhin ein Anfang, aber ein Tropfen auf den heißen Stein. Außerdem braucht es dringend mehr Spezialambulanzen, eine bessere Versorgung in der Breite und ME/CFS sollte endlich im Medizinstudium behandelt werden."