Wie verschwindet ein Virus? Zu Beginn der Pandemie fiel bei dieser Frage oft das Wort „Herdenimmunität“. Sind genug Menschen immun gegen ein Virus, kann es sich schließlich nicht weiter ausbreiten. Impfungen galten als schillernde Hoffnung, um eine breite Immunität zu schaffen. Doch mittlerweile zweifeln Wissenschaftler, ob eine Herdenimmunität überhaupt möglich ist. Trotzdem bleibt der Düsseldorfer Virologe Jörg Timm optimistisch: Das Virus bleibt, glaubt er. Die Bedrohung nicht.
Eine Herdenimmunität wirkt ähnlich wie eine Brandschneise in einem brennenden Wald: Infizierte stecken ihr Umfeld nicht mehr an, weil die meisten Menschen eine Virusinfektion entweder schon überstanden haben oder geimpft sind. Das Umfeld ist immun, es kreist das Virus ein. Dadurch, dass immune Menschen den Erreger nicht weitergeben, schützen sie auch Teile der Gesellschaft ohne Immunität – Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können oder Impfgegner. In der Vergangenheit hat die Herdenimmunität durch Impfungen schon Krankheiten komplett ausgerottet, beispielsweise die Pocken.
Normalität statt Herdenimmunität
Heute begraben viele Wissenschaftler die Hoffnung auf eine Herdenimmunität bei Covid-19. Datenexperte Youyang Gu benannte sein Model „Der Weg zur Herdenimmunität“ kürzlich in „Der Weg zur Normalität“ um. Zu vieles spricht dagegen, dass das Virus einfach wieder verschwindet.
Denn nicht alle Menschen können gegen Covid-19 geimpft werden. In Deutschland sind rund 10 Millionen Menschen von Impfungen bislang ausgenommen, darunter Kinder, Jugendliche und Schwangere. Dazu kommt, dass nur 50 bis 85 Prozent der Bevölkerung die Impfung tatsächlich wollen. Je weniger Geimpfte, desto unerreichbarer wird eine Herdenimmunität.
Mutationen erschweren Pandemiebekämpfung
Doch die Herdenimmunität scheitert vermutlich nicht alleine an Impfskeptikern. Mutationen erschweren die Pandemiebekämpfung aus gleich zwei Gründen. Sie haben meist einen höheren R-Wert, was bedeutet: Ein Infizierter steckt im Schnitt mehr Menschen an. Je ansteckender ein Virus ist, desto größer muss der immune Teil der Bevölkerung sein, der eine Ausbreitung verhindert. Anfangs ging man davon aus, dass 66 Prozent der Bevölkerung immun sein muss, um eine Herdenimmunität zu bilden. Bei einigen Mutanten steigt diese Zahl auf über 80 Prozent.
Viele Impfstoffe bekämpfen Mutanten zudem schwächer als das ursprüngliche Virus. Südafrika beispielsweise verkaufte seine Astrazeneca-Impfstoffe an andere afrikanische Länder, weil das Vakzin nicht ausreichend gegen die südafrikanische Variante schützt. Die südafrikanische und die brasilianische Mutation gehören zu den sogenannten „Escape-Mutationen“: Hier kann das Virus dem Immunsystem teilweise entkommen.
Hinzu kommt, dass die Impfstoffe weltweit ungleich verteilt sind: 75 Prozent aller Impfdosen wurden bisher in nur zehn Ländern der Welt verimpft. Dadurch kann sich die Pandemie in ärmeren Ländern auch in Zukunft weiter ausbreiten. „Viele Infektionen bedeuten ein hohes Risiko für Mutationen“, sagt Jörg Timm, Direktor des Instituts für Virologie an der Uni Düsseldorf.
Biontech-Studie macht Hoffnung
Ist die Corona-Pandemie ohne Herdenimmunität also ein Schrecken ohne Ende? Eine Krankheit, die sich durch Mutationen immer neue Schlupflöcher sucht, um sich weiter auszubreiten? Ganz so düster blickt Virologe Timm nicht in die Zukunft. Die Zeit der Corona-Wellen und exponentiell steigenden Fallzahlen ist seiner Ansicht nach im Herbst vorbei – vorausgesetzt, alle Impfwilligen haben bis dahin ihre Spritzen bekommen.
Hoffnung macht auch eine Studie von Biontech: Das Unternehmen testete seinen Impfstoff an Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren. Der Schutz der Impfung lag bei nahezu 100 Prozent. Timm geht von einer Zulassung des Impfstoffs für diese Altersgruppe noch in diesem Sommer aus. Prinzipiell, sagt Timm, sei es auch möglich, Schwangere zu impfen. Ihnen wird die Impfung aber nicht empfohlen, weil es dazu noch zu wenig Daten gibt.
Kein Ende des Virus, aber ein Ende der Gefahr
Wie realistisch eine Herdenimmunität bei Covid-19 ist, kommt auch ein bisschen auf die Definition an. „Bei der Immunität muss man differenzieren“, sagt Timm. Eine Masern-Impfung zum Beispiel führe zu einer sterilen Immunität: Geimpfte sind nicht mehr infizierbar und können das Virus nicht mehr weitergeben – wie eine glatte und breite Brandschneise, die das Feuer aushungert.
Eine solche sterile Immunität gegen Covid-19, sagt Timm, ist tatsächlich unwahrscheinlich. Er glaubt trotzdem an eine gewisse Grundimmunität im Herbst. Auch bei der brasilianischen und südafrikanischen Mutation, sei die der Impfstoff nicht wie abgeschaltet. „Die Impfung wirkt gegen diese Mutationen nicht perfekt, aber wahrscheinlich gut genug, um schwere Verläufe zu verhindern“, so der Virologe.
Bei milderen Verläufen sinkt oft die Virus-Menge in den höheren Atemwegen: Die Menschen sind meist kürzer ansteckend. „Der Begriff Herdenimmunität hinkt, wenn wir erwarten, dass dann keine Infektionen mehr vorkommen“, sagt Timm. „Ich gehe davon aus, dass das Coronavirus bei uns bleibt, dass wir immer wieder Infektionen haben werden. Aber sie werden unter dem Einfluss der Immunität nicht mehr so schwer sein und das Virus wird sich nicht so rasch verbreiten wie jetzt. Die Gefahr wird vergleichsweise gering sein.“
„Der Schrecken der Pandemie ist in einem Jahr vorbei“
Jörg Timm geht davon aus, dass das Coronavirus endemisch wird, das bedeutet: Es tritt abgeschwächt saisonal auf. Eine Vermutung, die viele führende Wissenschaftler teilen. Tritt das Virus wieder in Erscheinung, trifft es auf eine Bevölkerung mit Restimmunität. „So schaffen wir es, schwere Infektionen zu verhindern“, so der Virologe. „Deshalb verbreiten die meisten Erkältungsviren auch gar keinen Schrecken bei uns. Ich gehe davon aus, dass SARS-CoV-2 sich genau in diese Reihe stellen wird.“ Das Virus bleibt, die Bedrohung dagegen schwindet.
Herrscht im Herbst in den Kölner Kneipen also wieder reger Betrieb? Sollte das Impfprogramm schnell voran kommt, hält Timm das für gut möglich. „Der Schrecken der Pandemie ist in einem Jahr mit Sicherheit vorbei“, sagt der 49-Jährige. „Bei uns jedenfalls – global ist das noch ein langer Weg.“