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Nach Routine-Impfung gelähmtHerr Steinmetz lernt wieder laufen

Lesezeit 7 Minuten
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„Ich habe 30 Blutwäschen bekommen, um alles rauszuspülen.“ 

  1. Michael Steinmetz hat nach einer harmlosen Routineimpfung die Kontrolle über die Hälfte seines Körpers verloren.
  2. Dass er seit drei Jahren mit Hilfe eines computergesteuerten Exo-Skeletts wieder aufrecht stehen kann, verdankt er einem Gesetz, das eigentlich nur für Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht war.
  3. Geschichte einer jahrelangen Leidenszeit

„Vom Bauch ab gelähmt“, sagt Michael Steinmetz. „Vorne, hinten – alles kaputt. Dazu Nervenschmerzen wie verrückt.“ Das umschreibe ziemlich exakt seinen Zustand drei Wochen nach einer Dreifachimpfung gegen Tetanus, Diphtherie und Polio vor elf Jahren. Pech gehabt, das bescheinigten ihm mehrere ärztliche Gutachter, die sich des Falls annahmen. Bei seiner Querschnittlähmung handle es sich „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine unerwünschte Impfnebenwirkung“.

Der Impfstoff, so vermuteten die Gutachter, hatte bei dem damals 45 Jahre alten Mann ein Ödem im Rückenmark verursacht. Das hatte auf den Rückenmarkkanal gedrückt und die dort verlaufenden Nerven geschädigt. Die Folge der extrem seltenen Impfkomplikation: Steinmetz verlor die Kontrolle über die Hälfte seines Körpers. „Da kommt auch nichts wieder.“ Allein die Schmerzen zeugten davon, dass noch Leben in seinen unteren Körperregionen steckt. „Schmerzen ohne Ende“, die er, wann immer es nötig ist, mit Morphium und dem Antiepileptikum Lyrica bekämpft.

Dass Michael Steinmetz seit drei Jahren mit Hilfe eines computergesteuerten Exo-Skeletts namens „ReWalk“ wieder aufrecht stehen und sogar laufen kann, verdankt er dem Landschaftsverband Rheinland (LVR), besser: dem „Fachbereich Soziales Entschädigungsrecht“. Dessen knapp 140 Mitarbeiter starkes Team betreut rund 10.000 Geschädigte aus dem ganzen Rheinland, denen nach dem „Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges“ – auch bekannt als Bundesversorgungsgesetz (BVG) – staatliche Unterstützung zusteht.

Michael Steinmetz hat die Hoffnung verloren:  „Da kommt auch nichts wieder.“

Das BVG galt ursprünglich ausschließlich für Opfer des Zweiten Weltkriegs, also für Soldaten, deren Angehörige und Hinterbliebene. Zuständig war die Kriegsopferversorgung, die nach der Auflösung der staatlichen Versorgungsämter vor zehn Jahren in die Hände der NRW-Landschaftsverbände in Köln und Münster überging.

Berechtigt sind auch Opfer von Gewalt

Seit Mitte der 1950er Jahre ist das Soziale Entschädigungsrecht immer wieder überarbeitet und erweitert worden. Derzeit können außer den Kriegsopfern auch Opfer von physischer Gewalt und sexuellem Missbrauch Ansprüche auf eine Entschädigung anmelden, außerdem ehemalige DDR-Häftlinge sowie geschädigte Zivil- und Wehrdienstleistende. Und Menschen wie Michael Steinmetz, denen eine harmlose Routineimpfung – warum auch immer – zum lebensverändernden Verhängnis wurde.

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Dank des Exo-Skeletts kann Michael Steinmetz nach acht Jahren wieder laufen.

Insgesamt zwölf Wochen liegt Steinmetz 2007 im Krankenhaus, ein Häufchen Elend mit unklarem Krankheitsbild. Erst der Hinweis seiner Ehefrau auf die zurückliegende Impfung lässt die Ärzte einen Impfschaden vermuten.

Nach der Erkrankung droht der finanzielle Ruin

„Ich habe 30 Blutwäschen bekommen, um alles rauszuspülen.“ Doch nichts hilft. Der Vater von zwei Kindern ist mit 45 Jahren querschnittgelähmt und arbeitsunfähig. Der ehemalige Polizei- und Postbeamte hatte sich 1999 mit einem Existenzgründungsbüro selbstständig gemacht und steuert nach seiner Erkrankung auf den finanziellen Ruin zu. Seine Ehefrau wendet sich schließlich ratsuchend an die Ständige Impfkommission, die sie weiterverweist an den LVR. Die ärztlichen Gutachten untermauern Steinmetz’ Anspruch auf Entschädigung aufgrund des Infektionsschutzgesetzes. Steinmetz ist damit eines von fünf Impfopfern in NRW, deren Ansprüche im Jahr 2007 anerkannt werden.

Seitdem bezieht der heute 57 Jahre alte Mann eine monatliche Rente, die ihm rückwirkend vom Tag der Impfung an ausgezahlt wurde. Hinzu kommen ein Pflegegeld, eine Kleiderverschleißpauschale, Zuschüsse für eine Begleitperson in den Urlaub, alle zwei Jahre eine Reha-Maßnahme – und natürlich der ReWalk, der „Gustav“, wie Steinmetz das Exo-Skelett nennt. Per Knopfdruck kann er das Gerät, in dem er festgeschnallt ist, in Bewegung setzen: sitzen, stehen, laufen. „Als ich das erste Mal nach acht Jahren wieder in der Senkrechte war, habe ich geheult.“ Schmerzmittel brauche er seitdem nicht mehr. Angenehmer Nebeneffekt: Durch die regelmäßige Aktivierung der Muskeln in den Beinen seien die Nervenschmerzen nahezu verschwunden.

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Per Knopfdruck kann Michael Steinmetz das Gerät, in dem er festgeschnallt ist,  in Bewegung setzen: sitzen, stehen, laufen.   

123,5 Millionen Euro hat der LVR im vergangenen Jahr für Geschädigte im Rheinland ausgegeben, rund 113 Millionen allein für Gewalt- und für Kriegsopfer. Die Klientel der ersten Stunde, Kriegswitwen und -waisen, macht nach wie vor das Gros der Geschädigten aus. Ab und an gebe es sogar noch Neumeldungen von Hinterbliebenen, die „Ansprüche auf Leistungen der Pflege“ geltend machten, sagt Fachbereichsleiter Peter J. Anders. Insgesamt jedoch nehme die Zahl der Kriegsopfer ab. Stattdessen steige die Zahl der Gewalt- und Missbrauchsopfer, die Entschädigungsansprüche anmeldeten.

Knapp 47 000 Menschen wurden 2017 in NRW Opfer von Gewaltkriminalität wie Raub, Mord und Totschlag. Allerdings habe längst nicht jeder Anspruch auf Leistungen aus der Staatskasse, sagt Anders. „Voraussetzung ist, dass man nachweislich Opfer eines rechtswidrigen gewalttätigen Angriffs geworden ist und den Täter nicht provoziert hat.“ Das zu beweisen, sei gerade bei sexuellem Missbrauch mitunter schwierig, erst recht, wenn die Fälle einige Zeit zurück lägen. „Hinzu kommt, dass das Antragsverfahren sehr belastend sein kann, weil die Betroffenen alles noch einmal durchleben.“ Etwa 2000 Erstanträge von Gewaltopfern gingen 2017 beim LVR ein. Von den 1523 bereits entschiedenen Fällen wurden 672 abgelehnt.

Auch Opfer psychischer Gewalt sollen profitieren

Nicht berücksichtigt werden bislang die Opfer von psychischer Gewalt, was sich bald ändern könnte. Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales denkt man derzeit über eine Reform des Rechts der Sozialen Entschädigung nach. Ein Kernelement sei die Anerkennung psychischer Gewalt, so eine Sprecherin. „Künftig sollen etwa Fälle wie die Bedrohung eines Bankkunden mit einer Waffe erfasst werden.“

Siegfried Dorp kennt sich mit jeder Form von Gewalt aus, der psychischen wie der physischen. Der 64-Jährige hat knapp zwei Jahre als politischer Gefangener in diversen DDR-Gefängnissen gesessen, wo er „ordentlich einen mitbekommen hat“. Heute profitiert auch er von den Leistungen des LVR. Dorp ist zu 60 Prozent schwerbehindert, seine Knochen, seine Hüften, seine Zähne und nicht zuletzt seine Seele haben unwiderruflich Schaden genommen in der Gefangenschaft.

Im November 1983 versucht der Strahlenschutzexperte aus Greifswald über Ungarn in die Bundesrepublik zu fliehen. Der Grund: Ein vermeintlicher Freund hatte ihn gewarnt, er sei aufgrund seiner Kontakte zu einem österreichischen Kernphysiker in den Fokus der Stasi geraten. „In meiner jugendlichen Naivität habe ich mir gesagt, du musst fliehen.“ Ein Fehler, wie sich schnell herausstellt. Dorp wird an der ungarischen Grenze verhaftet und acht Monate später unter anderem wegen Republikflucht, Widerstand gegen staatliche Maßnahmen und Spionage zu elf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Im Gepäck: Entlassungsschein und ein tiefes Trauma

Im September 1985 wird er überraschend in den Westen abgeschoben und zieht nach Köln, wo er Verwandte hat. Sein Gepäck: eine Reisetasche, ein Entlassungsschein mit dem Vermerk „Zur Bewährung in die BRD entlassen“. Und ein tiefes Trauma, an dessen Bewältigung Dorp bis heute arbeitet. Depressionen und Flashbacks, qualvolle, immer wieder aufblitzende Erinnerungen an die Torturen der Gefangenschaft, machen ihm auch mehr als 30 Jahre später zu schaffen. Einzelhaft, Dunkelhaft, Schläge und Beleidigungen – er zählt nur einige der Repressalien auf, die ihn fast seine körperliche und seelische Gesundheit gekostet haben. Zweimal versucht er im Gefängnis, Selbstmord zu begehen. Zweimal wird er gerettet. Auch einige Jahre nach seiner Entlassung habe die Frage zeitweise nicht gelautet, ob er sich umbringen werde. Sondern lediglich: mit welcher Methode.

Inzwischen habe er gelernt, mit dem Erlebten umzugehen. Dorp ist seit Jahren in psychologischer Behandlung, die der Landschaftsverband zahlt. „Wichtig ist, dass mir jemand zuhört und die Dinge einordnet.“ Er bekommt eine kleine Rente und hat Anspruch auf medizinische Hilfsmittel wie dringend notwendige Zahnimplantate. Manchmal allerdings, sagt Dorp, habe er wegen der Zuwendungen ein schlechtes Gewissen. „Die BRD hat mich ja nicht inhaftiert, sondern die DDR.“

Infos zur Opferentschädigung

Knapp 47 000 Menschen wurden 2017 in NRW Opfer einer Gewalttat wie Mord, Totschlag, sexuelle Nötigung oder gefährliche und schwere Körperverletzung. Im gesamten Bundesgebiet waren es im selben Jahr knapp 190 000 Opfer. Die jüngsten Zahlen zu Impfschäden stammen aus dem Jahr 2009. Insgesamt wurden in diesem Jahr in Deutschland 38 von 222 gemeldeten Fällen anerkannt. In NRW waren es im selben Zeitraum fünf von 39.

Die Opferentschädigung liegt in NRW anders als in anderen Bundesländern in der Hand der Landschaftsverbände. Im Rheinland ist der Landschaftsverband Rheinland (LVR), Abteilung „Soziales Entschädigungsrecht“, dafür zuständig. Anspruch auf Entschädigung haben Opfer des Zweiten Weltkriegs und deren Angehörige und Hinterbliebene, Wehr- und Zivildienstleistende, Opfer von Gewalttaten, ehemalige DDR-Häftlinge und Menschen mit Impfschädigung. Durch verschiedene Renten und andere finanzielle Leistungen soll die wirtschaftliche Versorgung der Betroffenen sichergestellt werden. Information: LVR-Fachbereich Soziales Entschädigungsrecht, Deutzer Freiheit 77-79, 50679 Köln, Tel. 0221/809-0. www.lvr.de

Der Weiße Ring hilft Menschen, die Opfer einer Straftat wurden. Zu den Leistungen gehören unter anderem die persönliche Betreuung der Betroffenen, die Begleitung zu Terminen bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und vor Gericht, die Übernahme von Anwaltskosten und die finanzielle Unterstützung bei tatbedingten Notlagen. Entschädigungen werden nicht gezahlt. Opfer-Telefon (kostenfrei): 116 006. https://weisser-ring.de