AboAbonnieren

Sara SchätzlWenn die Bulimie zur besten Freundin wird

Lesezeit 4 Minuten

Es gibt viele erste Male im Leben. Die meisten erinnern sich gut an den ersten Kuss, das erste Verliebt-Sein, vielleicht auch an den ersten Schultag oder die Premiere im Job. Sara Schätzl erinnert sich besonders gut an ein anderes erstes Mal - an den Tag, als sie sich zum ersten Mal nach dem Essen übergibt - weil sie es will.

Es ist der Beginn einer innigen wie zerstörerischen Beziehung, die zwölf Jahre dauern soll: Ihre Partnerin heißt von da an Bulimia nervosa. Ein schöner Name für die Ess-Brech-Sucht. Das selbst erklärte „Glamourgirl“ hat über diese Zeit ein Tagebuch geschrieben, das kürzlich als „Hungriges Herz“ bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen ist. Die heute 27-Jährige bezeichnet das schmerzhafte Erbrechen über der Toilette lange Zeit lediglich als „meine kleinen Tricks“ oder das „Essen ungeschehen machen“, schließlich nennt sie es sogar „einen Lifestyle“.

Bulimie ist die einzige Verbündete

Sara Schätzl, einst ein sogenanntes It-Girl der Münchener Schickeria, das durch diese unstete, oberflächliche Scheinwelt taumelte, hatte die ganze Zeit über eine Verbündete, die ihr Stabilität im Leben gab - die Bulimie. „Meine Essstörung und ich sind beste Freunde. Sie ist für mich da, wenn ich nicht weiter weiß. Sie hilft mir, wenn ich zu viel fühle oder zu wenig. Vor allem aber nimmt sie mir die Einsamkeit. Die letzten zwölf Jahre haben wir miteinander geteilt. Ich musste nie lernen, als Erwachsene ohne sie zu existieren. Sie half mir so oft, wenn sonst niemand da war“, schreibt sie.

Weder im Nachtleben von München noch von Los Angeles, wo sie heute lebt, findet sie dagegen einen Halt. Auf den roten Teppichen, in der Welt der Promis, die ihr lange Zeit so erstrebenswert erscheint, gibt es nichts zum Festhalten: „Keiner interessierte sich wirklich für den anderen und bei 100 Dezibel und wummerndem Bass aus den Boxen gab es auch keine tiefgreifenden Unterhaltungen.“

Die Beziehungen zu Männern zerbrechen, die Bulimie bleibt

Alles beginnt, als Sara 14 ist: „Ohne es groß zu beschönigen, kann man sagen, ich hasste alles an mir. Vor allem meinen Körperumfang. Ich war eine stabile Kleidergröße 42 - mit 14!“ Sara ist unglücklich, isoliert in der Schule, die Eltern trennen sich, die Familie zieht um, sie fühlt sich vollkommen ungeliebt - von da an beginnt ihre Beziehung mit der Bulimia nervosa. „Meine Essstörung und ich waren ein gutes Team. Das kann ich nicht anders sagen. Wir hatten einen täglichen Ablauf und unsere eigenen Rituale. Wie ein Ehepaar, nur friedlicher. Meine Lebenspartnerin Bulimie hatte, im Gegensatz zu meinen männlichen Partnern, nur positive Seiten.“ Die Beziehungen zu Männern zerbrechen, die Bulimie bleibt.

Die Schwangerschaft als Wendepunkt

Auf und ab, oben und unten - so sind Beziehungen, aber die von Sara und der Bulimie war bald vor allen Dingen eines: unten: „Ich war am Boden aufgeschlagen - faktisch. Aber so ganz wollte die Erleuchtung dennoch nicht einkehren.“ Dabei ist sie sich des zerstörerischen Potenzials der Krankheit durchaus bewusst. „Bulimie ist die Hand, die mich auffängt und eines Tages umbringen wird. Das klang für mich nach einem fairen Deal. Bis ich schwanger wurde“. Das ist der Wendepunkt.

Der Gedanke an ihren Sohn rettet sie

Es ist der Gedanke an ihren Sohn, der sie rettet: „Bald würde er alt genug sein, um zu verstehen, was Mama da im Bad macht.“ Sie beginnt eine Therapie - um seinetwillen, und dann irgendwann auch um ihretwillen. Doch bis dahin ist es ein langer Weg. „Ich vermisste meine Essstörung, obwohl ich sie noch gar nicht los war. Ich war gefangen in einer emotional extrem ungesunden Beziehung mit meiner besten Freundin und nicht fähig, Schluss zu machen.“

Lange Zeit ist ihr Verhältnis zur Bulimie das, was man neudeutsch eine On-Off-Beziehung nennt: Sie geht zur Therapie - und zu Hause schließt sie sich wieder im Bad ein: „Danach hatte ich einen großen Rückfall und verbrachte den ganzen Tag in meiner Blase aus Essen und Kotzen. Alltag. Sicherheit.“ Sara bricht schließlich aus dieser vermeintlichen Sicherheit aus, sie verlässt Bulimia nervosa - um nach und nach sich selbst zu finden.

Sara Schätzl: Hungriges Herz. Scharzkopf & Schwarzkopf, 9,99 Euro.