Skin PickingDer Drang, an der Haut zu knibbeln
Köln – Barbara Schubert konnte sich früher stundenlang mit ihrer Haut beschäftigen: Pickel ausdrücken, an der Wunde kratzen, Kruste abpiddeln. „Ich habe mich selbst im Gesicht, an Rücken und Dekolleté mit spitzen Gegenständen bearbeitet. Alle Unreinheiten sollten weg“, erzählt die 52-Jährige. „Es war wie eine Trance, da spürte man keinen Schmerz mehr.“ Über Jahrzehnte litt Schubert, die heute als Therapeutin und Business Coach in Frankfurt arbeitet, unter diesem Drang – und unter den Folgen: Wunden und Narben, die sie verzweifelt überschminkte, um dann vor lauter innerem Stress wieder mit dem Kratzen anzufangen.
Vor etwa zwei Jahren stieß sie bei der Suche nach einem Akne-Mittel auf die Internetseite skinpicking.de. Betreiberin ist die nach eigenen Angaben erste deutsche Selbsthilfegruppe, die sich mit einer Störung beschäftigt, die in Amerika „Skin Picking“ (Haut-Knibbeln) genannt wird und auch als Acné excoriée oder Dermatillomanie bekannt ist. „Endlich hatte das, was mich seit fast 40 Jahren begleitete, einen Namen“, sagt Schubert, die Kontakt zu der Gruppe in Köln aufnahm. „Ich fühlte mich nicht mehr so exotisch und allein mit dem Problem.“
Dass Menschen sich Pickel und Mückenstiche aufkratzen oder die Nagelhaut abzupfen, ist ein recht alltägliches Phänomen. „Bei einer Umfrage unter Psychologie-Studenten gaben 91,7 Prozent an, gelegentlich zu knibbeln, 57,9 Prozent täglich, immerhin 4,6 empfinden einen deutlichen Leidensdruck, eine Beeinträchtigung dadurch“, sagt die Psychologin Antje Hunger (siehe Interview rechts).
Studien hätten herausgefunden: „Schätzungsweise 1,5 bis fünf Prozent der Bundesbürger sind in ihrem Leben von einer pathologischen Form des Skin Picking betroffen.“ Das sind 1,2 bis vier Millionen Menschen. Hunger sagt: „Leider ist diese Störung bis heute vielen Ärzten und Therapeuten nicht bekannt.“
Bei Barbara Schubert begann das Skin Picking in der Jugend: „Ich hatte einen sehr autoritären, jähzornigen und unberechenbaren Vater.“ Gefühle zu zeigen sei zu Hause nicht möglich gewesen. Schubert sieht eine Verbindung zu ihrem Leiden: „Ich glaube, dass Skin Picking für mich eine Möglichkeit war, mich selbst zu spüren und meine Gefühle zu verarbeiten.“ Vor allem in Stresssituationen konnte sie dem Drang, „alles schön glatt zu machen und in Ordnung zu bringen“, nicht widerstehen. Sie habe sich gefühlt „wie ein Jäger, der eine Beute erlegt“. Verstärkt wird das Problem aus Schuberts Sicht durch das Schönheitsideal einer Gesellschaft, die Makellosigkeit und Perfektion einfordert.
Durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Erkrankung hat Barbara Schubert es geschafft, sie in den Griff zu bekommen. Ein langer Weg, wie sie sagt. Auch ihre berufliche Weiterentwicklung, die Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie und Fachberaterin für Kognitive Verhaltenstherapie, sieht sie als wichtige Schritte, zumal sie selbst Skin-Picking-Patienten behandelt. „Und ich habe versucht herauszufinden, welche Situationen für mich ein Auslöser sind. Welche Alternativen ich habe, um mit den Gefühlen umzugehen und nicht in den Automatismus Spiegelkontrolle-Hautbearbeiten zu verfallen.“ Nur unter extremem Stress tauche das alte Muster wieder auf.
Auch Thomas Soltau (Name geändert) sieht sich heute „zu 90 Prozent als geheilt. Bei mir fing Skin Picking während des Zivildienstes an“, sagt der 34-Jährige. Er habe sich oft gefragt, was er selbst verursache und welche Hautprobleme durch Gene oder Ernährung bedingt seien. Soltau suchte Rat bei Ärzten. „Einer stellte die Verbindung zwischen Haut und Psyche her. Trotzdem habe ich damals noch nicht darüber reden können“, erinnert sich der Kölner, der den Drang, die eigene Haut zu bearbeiten, und die daraus resultierenden Folgen als „einfach nur schrecklich“ bezeichnet. „Das Ganze ist extrem schambesetzt.“
Er habe unzählige Vermeidungsstrategien entwickelt, um zu verbergen, was er sich selbst immer wieder antut. „Ich bin nicht zu Verabredungen gegangen, nicht zu Feiern, nicht in die Uni.“ Er sehe Skin Picking heute als eine Art Selbstsabotage: „Keine berufliche Karriere, keine Beziehung – das waren die Folgen.“
André Kowalski (40, Name geändert) gibt ein Beispiel für die Vermeidungsstrategien von Betroffenen: Als ihn vor Jahren bei einem New-York-Aufenthalt eine Freundin besuchte, habe er sich ihr gegenüber abweisend verhalten – aus lauter Scham und Ekel vor seiner eigenen Haut. „Das hat die Freundin sehr verletzt.“ Später machte er eine Therapie. Mit mehr Selbstwertgefühl gewann er auch eine gelassenere Haltung zu seinem Hautproblem. „Ich habe gelernt, es zu akzeptieren. Damit hat es an Bedeutung verloren.“
Thomas Soltau entschied sich ebenfalls für eine Therapie: „Ich habe mich gefragt, warum ich diesen Drang verspüre, das Unreine suchen und bekämpfen zu müssen.“ Ganz wichtig sei es, „zu erkennen, dass Skin Picking etwas Ernstzunehmendes ist. Als Betroffener spielt man es gern herunter.“ Außenstehende würden es oft gar nicht bemerkten oder banalisieren. „Aber für die Psyche ist diese Selbstverletzung keine Kleinigkeit. Skin Picking bekommt gerade dadurch so viel Macht, dass man es verbirgt.“ Die Gespräche in der Selbsthilfegruppe würden helfen, diesen Teufelskreis zu knacken.
Zur Gruppe fand auch Jenny Krämer (Name geändert), obwohl bei ihr das Skin Picking eher im Hintergrund steht. „Ich habe Trichotillomanie und reiße mir selbst die Haare aus, vor allem die Wimpern und Augenbrauen“, sagt die 23-Jährige. Vor sieben Jahren habe sie damit angefangen. „Jede Wimper, die farblich oder von der Länge her aus der Reihe tanzte, störte und musste raus“, sagt Krämer. Am Kopf riss sie sich die Haare gar büschelweise aus. „Der ganze Pony war weg.“ Schließlich kam der Zusammenbruch. „Ich konnte nicht mehr.“ Im Internet suchte sie nach einem Therapeuten, der sich mit Trichotillomanie auskennt. „Das war nicht ganz leicht.“ Noch muss Krämer ihre fehlenden Wimpern und Augenbrauen überschminken. Doch sie kann über ihre Erkrankung sprechen, hat Strategien gefunden, dem Haarereißen zu widerstehen. Beispielsweise zieht sie vor dem Schlafengehen Augenmaske und Handschuhe an. Oder sie benutzt einen Knetball, um die Finger abzulenken, wenn die Gedanken wieder kreisen. „Ich versuche, einen anderen Umgang mit meinen Gefühlen zu finden und darüber zu sprechen.“ Sie weiß: „Wenn es mir nicht gut geht, muss ich auf mich aufpassen.“
www.skin-picking.dewww.bs-coaching-therapy.com
Buchtipp: Katharina Vollmeyer, Susanne Fricke: „Die eigene Haut retten – Hilfe bei Skin Picking“, Balance Buch + Medien 2012, 14,95 Euro.