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Die neue „Essthetisierung“Vier Ernährungs-Trends, mit denen wir das schlechte Gewissen austricksen wollen

Lesezeit 4 Minuten
Aufnahme eines Hamburgers mit gebratenem Rinderhack

Am Fleischkonsum scheiden sich die Geister.

Der Psychologe Stephan Grünewald vom Kölner rheingold-Institut erläutert vier große Trends in der Einstellung der Deutschen zu ihrer Ernährung.

Essen ist eine biologische Notwendigkeit. Und es ist Genuss, bereitet den Menschen Lust, erfüllt wichtige seelische Funktionen. Essen gibt Freude, Trost, Halt und Gemeinschaft. Aber die Unbeschwertheit in Sachen Ernährung ist verloren gegangen. 89 Prozent der Deutschen sind heute mit mindestens einem Aspekt ihrer Ernährung unzufrieden.

Die Gründe für die Vertreibung aus dem Ernährungsparadies und die Sehnsucht nach der verlorenen Unbeschwertheit beleuchtet eine vom „rheingold“-Institut durchgeführte Studie.

Der vor allem seit der Corona-Krise beobachtbare Rückzug ins private Schneckenhaus hat zu einer gesteigerten Selbstbezüglichkeit geführt. Die Menschen richteten ihren Aufmerksamkeitsfokus stärker auf sich und ihren Körper. Auch in Sachen Ernährung hatten sie das Gefühl, ihres Glückes oder Unglückes Schmied zu sein. Dadurch hat sich in den vergangenen Jahren der individuelle Druck erhöht, selbstgesteckten Ernährungsidealen auch gerecht zu werden.

In Tiefeninterviews beschreiben vor allem junge Menschen, dass sie immer wieder an ihren hohen Idealen scheitern und dies als persönliches Versagen erleben.

Stephan Grünewald

Stephan Grünewald

Zumal eine wachsende Anzahl gleichzeitig wirkender Ernährungsansprüche ihren Tribut fordern: In den 1960er Jahren waren es die Mäßigungs- und Schlankheitsideale, in den 80er Jahren folgte der Gesundheitshype, in den 90er Jahren der Anspruch, die mentale und körperliche Performance mit Hilfe der Ernährung zu optimieren. Seit Beginn des neuen Jahrtausends steigen moralische Anforderungen im Hinblick auf Klimaschonung und Tierwohl.

Vier große Trends

In jüngster Zeit steht Essen vor allem für junge Leute unter dem Anspruch einer „Essthetisierung“: Ideal fotografierte und gepostete Mahlzeiten dienen der Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung. Der wachsende Druck, den multiplen Ernährungsansprüchen gerecht zu werden, führt zu einem Verlust der oralen Unschuld und zu dem Gefühl, ständig etwas falsch zu machen. Zumal auch die Strafandrohungen kontinuierlich gestiegen sind: Übergewicht, Diabetes, Trägheit, Verdauungsstörungen, früher Tod, Akne, Schuld am Leid der Tiere oder am Klimawandel – das sind die sieben häufigsten Plagen als Folge von Ernährungssünden.

Vorbei sind die Zeiten bedenkenloser oraler Lust und der kollektiven Übereinkunft, was zu festgesetzten Mahlzeiten morgens, mittags und abends gegessen wird. Jeder, isst, prasst oder mäßigt sich auf seine Weise, und die Vielzahl der unterschiedlichen privaten Ess-Stile führt zu einer babylonisch anmutenden Ernährungsverwirrung. Groß ist daher die Sehnsucht der Menschen, die verlorene Unbeschwertheit in Sachen Ernährung wiederzuerlangen. Dafür zeichnen sich derzeit vier große Trends beziehungsweise Strategien ab.

1. Verinnerlichung der Ideale

Man passt sich in seinem Verhalten an die Erfordernisse der Zeit an und versucht, bei der Ernährung konsequent auf dem Pfad der Tugend zu wandeln. Vor allem der Fleischverzicht soll von einer dreifachen Schuld entlasten: gegenüber den Tieren, der eigenen Gesundheit und dem Klima. Die gewissenhafte Einkaufsplanung und die Vermeidung von Essens- oder Verpackungsmüll werden zum Maßstab der eigenen Ernsthaftigkeit.

2. Retro-Trend

Der Gegentrend ist die Rolle rückwärts in die vermeintlich gute alte Zeit, in der die Ernährungswelt noch in Ordnung erschien. Die Rückgewinnung des verlorenen Paradieses manifestiert sich vor allem in demonstrativem, ungebremstem Fleischkonsum. 28 Prozent der Menschen beharren darauf, auch in Zukunft keinesfalls weniger Wurst und Fleisch essen zu wollen.

3. Verdeckter Genuss nebenbei

Mit einem beiläufigen Dauersnacking während der Arbeit, zum Medienkonsum oder unterwegs wird der Radar der bewussten Ernährung unterlaufen. Nach dem Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ werden Probleme von Schuld und Scham verdrängt. Das ständige Snacken im Alltag erfüllt dabei – angesichts individueller Belastungen – auch die Funktion eines Puffers, eines Stoßdämpfers für die Seele. Vor allem in der „Gen Z“, der Alterskohorte der 15- bis 30-Jährigen, ist neben überkultivierten Kauf- und Ernährungsentscheidungen eine Sehnsucht erkennbar, regressiv im Bett zu essen und sich nebenbei auch noch mit Medienkonsum zu befüllen.

4. Neuer Pragmatismus

Sparzwänge und ein immer stärker belasteter, stressigerer Alltag mit Unterrichtsausfällen in der Schule, unregelmäßigen Kita-Zeiten, Streiks bei der Bahn, im ÖPNV oder im Flugverkehr, Multitasking-Anforderungen im Homeoffice nötigen, berechtigen aber zugleich auch dazu, das Thema Ernährung pragmatisch anzugehen und es von ideologischem Ballast zu befreien - vor allem in den Familien. Fast die Hälfte der Befragten bekennt sich dazu, lieber einfache Gerichte zu kochen. Insbesondere die Jüngeren nutzen verstärkt Lieferdienste, die eine aufwandslose Selbstversorgung bieten und gleichzeitig von der Verantwortung für die Zubereitung des Essens entlasten.

Zur Wiedererlangung von Unbeschwertheit und ungetrübter Sinnlichkeit in Sachen Ernährung hoffen die Menschen auf Unterstützung von außen: Die Politik soll klar festlegen, was beim Essen geht und was nicht. Handel und Industrie sollen den Menschen zeigen, dass sie die Verantwortung für globale Nachhaltigkeit übernehmen. Mit einem sorgfältig ausgewählten und geprüften Sortiment sollen sie den Konsumenten, ihren Kunden, auch eine Genuss-Absolution geben.


Die Studie „So is(s)t Deutschland 2024“ wurde im Auftrag von Nestlé Deutschland erstellt.