Millionen Deutsche leiden an chronischen Rückenschmerzen. An der Sporthochschule Köln schnallen sich manche von ihnen eine VR-Brille auf und fliegen. Das soll den Schmerz besiegen. Echt?
Kölner Forscher setzen auf VR-BrillenKann man Rückenschmerzen einfach wegfliegen?
Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, singt Reinhard Mey. Ansichtssache. Lukas Schmidt schwitzt und schnauft über den Wolken. Vor ihm fliegt eine Eule Schlangenlinien durch einen Parcours, markiert mit weißen Toren. Um ihr durch die Tore zu folgen, muss er Kurven machen, sein Gewicht verlagern, seinen Körper drehen und wenden, immer der Eule hinterher.
Er setzt die VR-Brille ab.
Sporthochschule Köln, ein kleiner Laborraum direkt neben Turnhalle 9. Schmidt liegt auf dem Bauch in einem Gestell mit ballonförmiger Bruststütze, die Arme und Beine ausgestreckt, er sieht ein bisschen aus wie Superman, bereit zum Abheben.
Seit Mai untersuchen Wissenschaftler in Köln, ob VR-Technologie die chronischen Rückenschmerzen der Probanden lindern kann. Chronische Schmerzen sind Schmerzen, die drei Monate oder länger, andauern. Bei älteren Menschen ist oft der Rücken betroffen. Mehr als ein Drittel der über 70-Jährigen klagt regelmäßig über starke Rückenleiden. An sie richtet sich die Therapie.
Aber auch an Lukas Schmidt. Er ist mit seinen 30 Jahren jünger als die meisten Probanden. Seit mehr als fünf Jahren zwickt ihm das Kreuz. Weil er zu viel am Schreibtisch sitzt, in Rundhaltung, vermutet er.
Schmerz hat Sinn, kann seine Warnfunktion aber auch ablegen
Evolutionär betrachtet ist Schmerz sinnvoll. Er warnt uns vor Gefahren. Etwa wenn wir uns an der Herdplatte verbrennen oder uns ein Hund in den Arm beißt. Das sind „noxische Reize“. Noxisch klingt wie toxisch und ist davon gar nicht so weit entfernt. Nur dass kein Gift langsam auf den Körper einwirkt, sondern etwas Abruptes, ein Stich, ein Stoß oder Hitze. Die Reize warnen uns davor, dass Gewebe beschädigt werden könnte.
Schmerz kann seine Warnfunktion aber auch ablegen und dauerhaft anhalten, Stichwort: chronischer Schmerz. Selbst wenn keine noxischen Reize gesendet werden, es also gar keine Gefahr gibt, alarmieren hypersensible Nerven das Gehirn – und verursachen Schmerzen.
Manchmal, sagt Schmidt, sei sein Schmerz eine 8 von 10. Er sei schon beim Orthopäden gewesen und habe eine Gang-Analyse machen lassen – ohne Erfolg. Und die Dehnübungen, die ihm der Physiotherapeut genannt hat? „Die mache ich nicht so oft, wie ich wahrscheinlich sollte. Auch, weil ich das Gefühl habe, die helfen nicht gegen den Schmerz.“ Helfen soll nun etwas anderes: der Ausflug in eine virtuelle Realität.
Ivo Käthner weiß, wie sehr Menschen unter chronischen Schmerzen leiden können. Er ist Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bamberg. An dem Kölner Projekt ist er nicht beteiligt, forscht aber auch zu der Frage, ob virtuelle Welten chronische Rückenschmerzen lindern können. Er erklärt das Phänomen so: „Unsere Ressourcen von Aufmerksamkeit sind limitiert. Und Schmerz benötigt Aufmerksamkeit. Wenn wir aber unsere Aufmerksamkeit auf die virtuelle Welt lenken, dann haben wir weniger Ressourcen für die Verarbeitung von Schmerzreizen.“
Das Schlüsselwort heißt also – Ablenkung.
Etwa wenn jemand vor einem Tiger davonrennt und dabei in einen Dorn tritt. Dann befindet sich das Gehirn im Überlebensmodus und sendet trotz des noxischen Reizes keinen Schmerz aus. Über eine Bahn im Rückenmark setzt es stattdessen im gesamten Körper Chemikalien frei und unterdrückt damit die ankommenden Warnsignale.
In der Neurowissenschaft spricht man von einer „absteigenden Schmerzhemmung“. Die ist der Grund, warum Unfallopfer unter Schock keinen Schmerz spüren. Und warum Lukas Schmidt vergisst, dass die Bandscheibe drückt, wenn er einer virtuellen Eule hinterherfliegt. Er ist zwar nicht im Überlebensmodus, aber in einer anderen Welt. Vor sich sieht er keinen grellen Laborraum mehr, sondern die Eule, deretwegen er seinen Körper neigt wie ein Skeleton-Fahrer.
Eine virtuelle Umgebung eignet sich besonders gut, um uns von Schmerzen abzulenken, sagt Ivo Käthner. Die Nutzung von VR ist „voll immersiv“ – das heißt, man taucht so tief in den virtuellen Raum ein, dass die Umgebung als real empfunden wird. Das Gehirn sei dann viel zu sehr beschäftigt mit den spektakulären Visionen, um sich auf den Schmerz zu fokussieren. Akute Schmerzen können so gelindert werden. Aber chronische?
Tatsächlich passt sich das Nervengedächtnis mit der Zeit an. Selbst ein Schmerz, der dauerhaft geworden ist, kann durch kontinuierliche Reize beim Sport verringert werden. Viele Menschen mit Rückenschmerzen setzen diese Reize nicht, weil der Schmerz sie blockiert. Doch sind sie abgelenkt, spüren sie den Schmerz während des Sports nicht, oder zumindest weniger.
Selbst dauerhafter Schmerz kann durch kontinuierliche Reize beim Sport verringert werden
Nach einer kurzen Pause steigt Lukas Schmidt wieder auf das weiße Gestell, legt sich auf den Bauch, setzt die schwere, schwarze Brille vor die Augen und streift sich das breite Gummiband über den Hinterkopf. Die Schwierigkeitsstufe wird erhöht, von 1 auf 2. Er muss jetzt noch schneller den Kurven der Eule folgen.
„Weiter nach links. Weiter nach rechts!“ Max Mansuroğlu sitzt vor einem Bildschirm und verfolgt Schmidts Flug. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sporthochschule Köln und leitet die Probanden für die Studie an. Über seine Handy-Boxen beschallt er mit Reggaeton von Burna Boy den Raum. „Musik für den Vibe“, sagt Mansuroğlu, während sich Schmidt durch die Wolkenlandschaft mäandert.
Er selbst ist fit, macht viel Yoga, und hat eine klare Meinung: Die Menschen bewegen sich zu wenig. Die WHO empfehle mindestens 150 Minuten Bewegung pro Woche. „Aber das reicht nicht. Ich sage, man sollte sich jeden Tag 60 Minuten bewegen.“ Rückenschmerzen sind laut Mansuroğlu keine Krankheit der Alten, sondern eine Konsequenz bestimmter Lebensumstände.
Menschen, die in der realen Welt unter Brandwunden leiden und in der virtuellen Welt Schneebälle auf Pinguine werfen
Inzwischen gibt es erste Meta-Studien zum Einsatz von VR in der Schmerztherapie. Eine Forschungsgruppe aus den Niederlanden hat Daten von insgesamt 9000 Patienten zusammengetragen. Darunter Menschen, die in der realen Welt unter Brandwunden leiden und in der virtuellen Welt Schneebälle auf Pinguine werfen. Oder solche, die chronische Rückenschmerzen haben und vier Minuten durch eine eisige Höhle rutschen. Das Ergebnis: Die virtuelle Realität kann diesen Menschen helfen, ihre Schmerzen zu lindern.
Trotzdem wird es noch dauern, bis VR-Technologien in der regulären Schmerztherapie angewendet werden. Über Meta-Studien hinaus braucht es kostenaufwendige Einzelstudien mit vielen Probanden, die belegen, dass ein ganz bestimmtes VR-Produkt in einem ganz bestimmten Fall hilft. Nur dann übernehmen die Krankenkassen auch die Kosten für die Behandlung.
Bei Schlaganfall-Patienten ist die VR-Forschung schon weiter
Deutlich weiter ist die VR-Forschung bei Schlaganfall-Patienten. Die Technik wird längst in Kliniken und Rehabilitationszentren eingesetzt.
Einer der Patienten-Pioniere in Deutschland ist Walter Puschacher. Der 57-Jährige leidet seit acht Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Er erzählt am Telefon über die schweren Anfänge, darüber, wie resigniert er war. Doch er sei eben auch jemand, der gerne Dinge ausprobiert, und da wird seine Stimme plötzlich ganz hell.
„Ich kann es kaum in Worte fassen“, sagt Puschacher. Er ist vor einigen Jahren auf gut Glück auf den Icaros Health gestiegen – also auf das gleiche Gerät, auf dem Schmidt an der Sporthochschule Köln Eulen hinterherfliegt – und nach und nach wurden seine Spasmen weniger. Noch heute fährt er dreimal die Woche mit dem Bus in den Speckgürtel Münchens zur Firma Icaros und geht „fliegen“, wie er sagt.
Doch es gibt mehr als nur den Flug hinter der Eule. VR kann es Schlaganfall-Patienten ermöglichen, ihre gelähmten Gliedmaßen in einer virtuellen Umgebung zu sehen, während sie mit dem gesunden Arm oder Bein Bewegungen ausführen. Diese Technik nutzt das Prinzip der Spiegeltherapie. Die Patienten nehmen ihre Bewegungen des gesunden Arms als Bewegungen des betroffenen Arms wahr und aktivieren so visuelle und motorische Hirnareale. Dieser „Trick“ stärkt das Körperbewusstsein und der gelähmte Körperteil wird in das Selbstbild des Patienten integriert.
Ein letztes Tor, ein letztes Aufblinken, ein letzter Ton. Die Eule verblasst und wird eins mit dem Horizont. Lukas Schmidt hat den Spielparcours durch die Lüfte zum dritten und letzten Mal hinter sich gebracht. Er steigt vom Icaros Health.
Ob er einen Effekt merkt? Schmidt überlegt kurz. Er stellt sich extra aufrecht hin und drückt seine Handflächen in den unteren Rücken, als wolle er seine Aussage überprüfen. „Während des Fliegens habe ich keine Schmerzen“, sagt er schließlich. Er sei zu sehr mit der anderen Welt beschäftigt.