AboAbonnieren

Vergesslichkeit„Sorry, vergessen!“ Warum bin ich so ein großer Schussel?

Lesezeit 6 Minuten
Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch, dass mit Post-Its übersät ist.

Da hilft auch das tausendste Post-It nichts: Unser Autor bleibt ein Schussel.

Schlüssel weg, Handy verlegt, Termin verpeilt. Unser Autor verkramt ständig irgendwas. Woher kommt Schusseligkeit? Und wie wird man sie wieder los?

Angefangen hat alles mit einem verschollenen Scout-Turnbeutel in der zweiten Klasse. Meine Mutter erzählt die Geschichte noch immer gerne: Wie sie mich vollbepackt zum Sportunterricht schickte und wie ich mit leeren Händen wieder nach Hause kam. Und wie der Scout-Turnbeutel danach nie wieder gesehen wurde. Seit diesem Tag vor 20 Jahren gelte ich als der Schussel der Familie.

Meine Verpeiltheit hat sich seitdem zur Familienlegende verfestigt. Zu einem prall gefüllten Anekdotenschatz voller verlorener Jacken, verlegter Schulbücher und verschwundener Schuhe, der bei jeder Familienfeier aufs neue geborgen wird.

Florian  Holler

Florian Holler

Redakteur in der Kölner Lokalredaktion. Als Polizeireporter zuständig für alle Themen rund um Sicherheit und Kriminalität in Köln. Zuvor hat er zwei Jahre beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ volontiert und z...

mehr

Immer wieder darf ich mir diese Geschichten anhören. Aber meine Mutter hat ja recht. Auf Schritt und Tritt verfolgt mich meine Schusseligkeit: Ob in der Bahn, wenn ich das Zugticket wieder vergesse, oder vor der Haustür, wenn ich nach dem Schlüssel krame. Regenschirme haben bei mir eine Halbwertszeit von wenigen Tagen. Und die Zahnärztin kann meine Entschuldigungen nach einem verbaselten Termin auch nicht mehr hören. Es ist, als wäre mein Gedächtnis ein grobmaschiges Sieb, durch das wichtige Informationen ständig durchrutschen.

Sind Schussel besonders intelligent?

Doch woran liegt das? Und was kann man dagegen tun? Ich rufe Sebastian Markett an. Der gebürtige Kölner ist Professor für Molekulare Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Markett beruhigt mich erst einmal: „Aufmerksamkeitsfehler sind normal, kleine Schusseligkeiten passieren jedem. Das hängt einfach damit zusammen, wie unser Gehirn funktioniert“ erklärt er.

Anders als eine Computerfestplatte habe das Gehirn prinzipiell keine Speicherobergrenze. Doch unser Gehirn sei auf Effizienz getrimmt. „Sich alles zu merken, macht für das Gehirn überhaupt keinen Sinn. Es springt nur so hoch, wie es muss“, sagt Markett. Alles, was als nicht wichtig genug registriert wird, fällt dem Vergessen anheim. Mit schweren Krankheiten wie Alzheimer hätten die kleinen Fehler des Alltags nichts zu tun.

Das hat die beiden kanadischen Hirnforscher Paul Frankland und Blake Richards zu der These veranlasst, dass Vergesslichkeit sogar ein Zeichen von Intelligenz sei. Ein Gehirn, so die Idee, das besonders gut Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann, ist schneller offen für neue Informationen und kann diese besser verarbeiten. Auch Karl Lauterbach teilte vor zwei Jahren auf Twitter eine Studie, die die These von Frankland und Richards zu bestätigen schien. Der Archetyp dieser Idee ist der zerstreute Professor, der sich in intellektuellen Höhen bewegt, während er den banalen Anforderungen des Alltags nur mit Mühe hinterherstolpert.

Wer verträumt ist, vergisst auch mehr

Die These vom intelligenten Schussel gefällt mir. Und auch Lauterbach dürfte sich bestätigt fühlen, wirkt er doch selbst oft wie ein Paradebeispiel des zerstreuten Professors. Doch ich habe Zweifel. Immerhin gehen mir oft genug gerade jene Informationen flöten, die ich als wichtig empfinde. Auch Sebastian Markett ist nicht überzeugt: „Aus der Forschung wissen wir zwar, dass Menschen, die besonders effizient Unwichtiges aus dem Kurzzeitgedächtnis herausfiltern können, oft auch intelligent sind. Aber mit Alltagsschusseligkeit hat das wenig zu tun.“

Was zeichnet den typischen Schussel also stattdessen aus? „Es gibt genetische Gründe dafür, der Anteil der Gene liegt bei etwa 50 Prozent. Aber auch medizinische und situative.“ Psychische Erkrankungen wie Depressionen können dazu führen, dass man mehr vergisst. Manchmal reicht aber auch ein schlechter Tag mit wenig Schlaf und viel Stress, um besonders vergesslich zu sein, so Markett.

Die Ursache für Schusseligkeit findet sich aber auch in der Mechanik des Gehirns: „Unser Gehirn befindet sich permanent in einem dynamischen Prozess zwischen mehreren Ebenen. Ganz allgemein kann man zwei Zustände unterscheiden, je nachdem wohin die Aufmerksamkeit gerichtet ist.“

Wendet das Gehirn seine Aufmerksamkeit nach außen, konzentriert es sich auf die Reize und Informationen in seiner Umwelt – und prägt sie sich genau ein. Noch lieber aber, erklärt Markett, richtet das Gehirn seine Aufmerksamkeit nach innen. Etwa, wenn wir über die Vergangenheit nachdenken, oder Pläne schmieden. „Unser Gehirn funktioniert so gut, weil es dynamisch zwischen diesen beiden Polen hin und her wechseln kann.“ Wenn das Gehirn aber zu oft in die Introspektion kippt, während eigentlich Aufmerksamkeit nach außen gefragt ist, gerät die Maschine ins Stottern und uns unterläuft eine Schusseligkeit nach der anderen. Schussel sind also nicht unbedingt intelligenter, eher verträumter.

Meditation ist neurobiologisch nichts anderes, als die Hirnströmungen beim Arbeiten zu beobachten.
Sebastian Markett, Professor für Molekulare Psychologie

Man kann seine eigene Schusseligkeit auch testen. Für ein Forschungsprojekt hat Markett die Domain schusseligkeit.de erworben. Wer den mehrseitigen Fragebogen ausfüllt, bekommt eine Einschätzung seiner Verpeiltheit geliefert. Und tatsächlich scheint der Test meine Vermutung und die meiner Familie zu bestätigen: Laut Webseite-Test gehöre ich zu den fünf Prozent der schusseligsten Menschen, die an der Studie teilgenommen haben.

Eine Sache kann der Test allerdings nicht erklären. Denn zu meiner Erleichterung hält mich nicht jeder für den großen Schussel, der ich laut Test und laut meiner Familie bin. Als ich die Idee, über diese Eigenschaft zu schreiben, in der Redaktion vorgestellt habe, reagierten meine Kolleginnen mit Verwunderung. Als Schussel habe man mich bisher noch nicht wahrgenommen. Ganz im Gegenteil. Gibt es also so etwas wie eine partielle Schusseligkeit, die sich nur in bestimmten Bereichen des Lebens niederschlägt?

Die Schusseligkeit sucht sich sein Ventil

„Das ist ein Punkt, der mich selbst fasziniert“, sagt Markett. „Denn das höre ich häufig: Auf der Arbeit läuft alles, aber im Alltag schlägt die Schusseligkeit zu.“ Studien zu diesem Phänomen gäbe es keine. Marketts Vermutung aber geht so: „Der Arbeitsplatz ist ein abgeschlossener Ort. In gewisser Weise begibt man sich dort in einen Modus, der vom Alltagsleben abgetrennt ist. Man arbeitet seine To-do-Liste ab und kontrolliert die Ergebnisse im Zweifel noch dreimal.“ Die Schusseligkeit sucht sich ein Ventil außerhalb der Arbeitszeiten. Man könnte also sagen: Je sorgfältiger im Beruf, desto schusseliger im Alltag.

Immerhin: Meine Schusseligkeit scheint meiner Arbeit nicht unbedingt zu schaden. Aber wie kriege ich sie im Alltag besser in den Griff? „Erinnerungsstützen“, das sei das Zauberwort, so Markett: Technische Gadgets wie Reminder-Apps, Kalender oder Tracking-Geräte am Schlüssel könnten helfen. Der Ursache der Schusseligkeit kommt man damit aber nicht auf die Schliche.

Peilsender und Meditation gegen die Schusseligkeit

Dafür empfiehlt Markett Achtsamkeitstraining, Meditieren etwa könne helfen. „Meditation ist neurobiologisch nichts anderes, als die Hirnströmungen beim Arbeiten zu beobachten. Wie sie sich winden und von Außen nach Innen kehren.“ Wer das ausdauernd mache, könne sie auch besser kontrollieren – und dadurch weniger verbummeln.

Doch selbst wenn ich mich in Achtsamkeit übe und mir die besten Gadgets anschaffe: Eine schlechte Nachricht hat Markett für mich noch: „Als Psychologe kann ich ihnen sagen: Wenn sich einmal ein Bild verfestigt hat, ist es schwer, das zu verändern.“

Den Ruf als Schussel der Familie werde ich so schnell also nicht los. Doch ob das wirklich so schlimm ist? Letzten Sommer sind meine Freundin und ich zusammen in den Urlaub nach Frankreich gefahren. Wir liehen uns das Auto meiner Mutter. Und, was soll ich sagen: Ich ließ ich den Autoschlüssel über Nacht im Zündschloss stecken. Die Sache ging glimpflich aus: Das Auto wurde nicht geklaut, nur die Batterie brauchte Starthilfe vom örtlichen Kfz-Mechaniker.

Als ich das Auto zurückbrachte und meiner Mutter die Geschichte erzählte, reagierte sie nicht verärgert, geschweige denn überrascht. Ich glaube sogar, ein Lächeln um ihre Mundwinkel entdeckt zu haben. Gerade so, als wäre sie froh, wieder eine nette Anekdote zu haben, die sie beim nächsten Familientreffen erzählen kann, wenn alle wieder zusammenkommen.