Wir ziehen uns immer mehr in unsere Blasen zurück – und vergessen dabei, wie gut und wichtig kontroverse Diskussionen sind.
Kontroversen mit schlechtem RufWarum es gut ist, wenn wir uns streiten – auch für das Gehirn

Meinungsverschiedenheiten sind gut, auch für das Gehirn.
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Wissen Sie, was Ihre Freunde, Nachbarn, Eltern und Ihre Friseurin bei der Bundestagswahl gewählt haben? Ich weiß es. Ich habe nachgefragt. Einige waren zunächst irritiert – aber am Ende haben es doch alle erzählt. Und schon waren wir in einer offenen, meist kontroversen Diskussion. Was überhaupt nicht schlimm war. Denn nur wer diskutiert, lernt dazu. Hinterfragt seinen eigenen Standpunkt. Kann seine Meinung ändern.
Aber genau diese Fähigkeiten scheinen abzunehmen. Diskussionen werden vermieden. Politische sowieso. Das aber ist eine fatale Entwicklung. Das Gehirn ist eigentlich ein Kommunikationsorgan. Große Teile der knapp eineinhalb Kilogramm im Kopf sind dafür da, mit anderen zu reden, zu flirten, zu streiten. Diese Art der Kommunikation geht aber weit über die Worte hinaus: Wir diskutieren auch mit Gesten, mit dem Gesichtsausdruck, mit der Stimmlage, mit der Sprechgeschwindigkeit. Wir diskutieren in Zwischentönen. All das ist aber mit vermeintlich moderner Kommunikation, etwa über WhatsApp, Instagram oder andere, nicht mehr möglich. Denn hier ersetzten ein paar Worte eine Argumentationskette, hier ersetzt ein Smiley ein differenziertes Lächeln (und einige Smileys sind vom Zähnefletschen kaum bis gar nicht zu unterscheiden).
Hinzu kommt: Wir bewegen uns immer mehr in unserer Blase, in der kontroverse Diskussionen gar nicht mehr stattfinden, weil die Ansichten kaum noch auseinandergehen. Wir meiden andere Meinungen. Eine Bekannte hat kürzlich gesagt, dass sie Kontakt zu CDU-Wählern ganz abbrechen werde. Wohlgemerkt: nicht das Gespräch vermeiden, sondern den Kontakt gänzlich abbrechen. Um sich dann in dem eigenen Wohlfühlbereich ganz ohne jede Störung von außen behaglich einzurichten. Über Parteien lässt sich trefflich streiten – aber den Kontakt abbrechen?
Streitet Euch endlich!
Diese Entwicklung ist auch neurologisch problematisch. Das Gehirn ist ein veränderungswilliges Organ. Es sucht neue Informationen, neue Situationen, alles Neue. Aber das Gehirn ist auch ein sparsames Organ: Es gilt das Prinzip „use it or loose it“: benutze es oder wirf es weg. Was immer im Gehirn nicht gebraucht wird, wird abgebaut: Milliarden von Nervenverbindungen fallen der Nichtbenutzung zum Opfer. Und so werden Fähigkeiten verlernt. Auch die Fähigkeit, sich offen zu streiten. Weil das Gehirn diese Fähigkeit nicht mehr braucht – und verlernt. Bei isoliert lebenden alten Menschen ist offensichtlich, dass deren Fähigkeiten zu kommunizieren abnimmt. Aber auch bei Jüngeren scheint genau das zu passieren. Durch moderne Kommunikation. Aber auch durch den Rückzug in die eigene Blase unter Gleichgesinnten.
Zeit, dass sich was dreht: Stilvoll und offen zu streiten ist eine wichtige Fähigkeit. Man kann sie lernen. Man kann sie genießen. Man kann überzeugen und überzeugt werden. Diskutieren ist wichtig. Streitet Euch endlich!