Was verpasst man dadurch, dass man nichts verpassen will? Unser Autor kämpft gegen seine exzessive Smartphonenutzung. Über den Versuch, ins Jetzt zurückzukehren.
Weg mit dem SmartphoneDie Wiederentdeckung der Langeweile – ein Selbstversuch
An einem Spätsommertag sitze ich unter einem Birnbaum auf einer Insel im Tegeler See vor den Toren Berlins und schaue mir selbst beim Denken zu. Ein Augenblick der Transzendenz, mit Schweiß unter den Achseln, es ist früher Nachmittag bei 30 Grad. Die Sonnenstrahlen führen auf dem Wasser am Ufer von Valentinswerder einen glitzernden Tanz auf, das reflektierende Licht huscht mir über die geschlossenen Augenlider. Innensicht und Außensicht verschmelzen. Was tue ich hier?
Dann läutet die Zimbel. Die Kursleiterin holt mich zurück in die Wirklichkeit. „Wie ist es Ihnen ergangen?“ Ich sage irgendwas mit „inspirierend“ und „dem Geist freien Lauf gelassen“. 17 Minuten saß ich hier, allein mit mir. Wann saß ich das letzte Mal so lange irgendwo und habe einfach nur Gedankenketten gebildet? Ich stehe auf und klopfe mir einige Grashalme von der Hose. Das „Waldbaden“, das Daniele Schütz-Diener unter dem Titel „Digital Detox – Reif für die Insel“ anbietet und das ich gebucht habe, ist vorbei.
Mein Leistungsnachweis nach drei Stunden im Inselwald: Ich bin achtsam an Bäumen vorbeigegangen. Habe mit angestrengter, aber ernst gemeinter Zuneigung eine große Eiche betrachtet. Lag auf dem Rasen und habe in den blauen Himmel gestarrt. Habe Farben, Klänge, Düfte wahrgenommen. Habe ein verloren geglaubtes Gefühl für die Natur neu entdeckt.
Und dann habe ich doch wieder zum Smartphone gegriffen.
Ein langweiliges Telefon für Hunderte Euro
Die Recherche für diesen Text beginnt im Mai 2024, nachdem auf der Mailänder Designwoche das Boring Phone vorgestellt wurde. Das Besondere an diesem Handy, das der Bierbrauer Heineken mit dem US-Händler Bodega in Auftrag gegeben hat: Es kann so gut wie nichts. Begleitet wurde die mediale Aufmerksamkeit für das schmucklose Ding mit den Funktionen Telefon, SMS und 0,3-Megapixel-Fotografie von Meldungen über den zuletzt leicht rückläufigen Social-Media-Konsum. Ausdruck dessen: der zart wachsende Markt für Retro-Knochen wie dem neu aufgelegten Klassiker Nokia 3310. Der „Guardian“ schrieb: „Ein guter Grund, um mit dem Doomscrolling aufzuhören: Langweilige Geräte sind jetzt cool.“
Selbstverständlich musste ich mir so ein Boring Phone besorgen. Und, ja, es ist irre langweilig. Man sitzt davor und wartet. Auf einen Anruf. Auf eine SMS. Auf Godot. Das Klappgerät ist auf 5000 Exemplare limitiert, wird im Internet unter Liebhabern für Hunderte Euro gehandelt. Kultig. Ein Handy für die Kneipe. Wer nicht ständig auf den Bildschirm glotzt, ist geselliger. Und trinkt mehr Heineken. Ein respektabler PR-Coup.
Ich verstehe, was daran cool sein soll. Trotzdem fällt es bei mir durch. Meine Routinen wollen ihr iPhone zurück.
Ich bilde mir ein, ich könnte ohne. Aber das behaupten alle Süchtigen. Anfang November rechne ich aus, wie viel Bildschirmzeit ich seit Beginn der Recherche angehäuft habe. Mit der wöchentlichen Mitteilung, in der mein Telefon mir vorhält, wie lange ich es in den vergangenen sieben Tagen geknechtet habe, lässt sich die ganze Misere gut rekonstruieren: Ich komme auf über 800 Stunden – in einem halben Jahr. Mehr als einen Monat habe ich damit verbracht, aufs Handy zu gucken. Dass ich es nicht nur privat, sondern auch beruflich nutze, ist zutreffend. Aber es ist eine jämmerliche Ausrede. Die Algorithmen haben mich da, wo sie mich haben wollen.
Was hätte ich mit der verlorenen Zeit alles anfangen können? So ist sie weg, verpufft. „Wir haben mehr Möglichkeiten als alle Generationen zuvor. Was aber dafür sorgt, dass wir wahnsinnig viel verlieren“, sagt Zeitexperte Jonas Geißler. Das Leben, sagt er, finde immer nur jetzt statt. Nichts bringt den Augenblick zurück. Glücklich, wer ihn ausgekostet hat. Mir bleibt hingegen nur das Bedauern, ihn vernichtet zu haben. Ich habe bisher jedenfalls noch nie mit Ergriffenheit an einen Moment erfüllender Handynutzung zurückgedacht.
Sind wir gerade dabei, Langeweile zu verlernen?
Geißler, Sohn des renommierten, 2022 gestorbenen Zeitforschers Karlheinz Geißler, coacht Unternehmen beim klügeren Umgang mit Zeit. Er ist Co-Autor des Buches „Alles eine Frage der Zeit“, das sich mit der verqueren gesellschaftlichen Logik des Kampfes gegen alles Langsame auseinandersetzt, mit unserem aggressiven Verhältnis zur Zeit. Ich habe Fragen an Geißler, die mich seit Monaten beschäftigen. Jetzt, im Herbst, als wir sprechen, kann ich sie loswerden: Was verpassen wir dadurch, dass wir nichts verpassen wollen? Und sind wir gerade dabei, Langeweile zu verlernen?
„Stille, Leere, Langsamkeit, Muße, Langeweile, all solche Dinge haben auch ihre Qualitäten“, sagt er. „Und die gehen verloren. Dabei sind sie wichtig.“ Für eine gesunde Psyche. Aber auch, um sich Gedanken zu machen, das Unterbewusstsein arbeiten zu lassen. „Auf einmal kriegen wir gute Ideen, uns fällt etwas ein. Und all solche Qualitäten sind natürlich weg, wenn ich so zugeballert werde die ganze Zeit.“
Geißler zitiert sich durch die Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte, Louis Pasteurs „Der Zufall trifft den vorbereiteten Geist“, Warren Buffetts Erfolgsformel „sit and think“ – Innovationen sind selbst im überhitzten Kapitalismus häufig Produkt bewusster Selbstbegrenzung. „Fokus bedeutet, Nein zu sagen zu hundert anderen guten Ideen“, hat Apple-Gründer Steve Jobs gesagt. Und paradoxerweise mit dem iPhone die große Entgrenzungs- und Ablenkungsmaschine unserer Zeit geschaffen.
Niemand wird jemals all die Musik hören können, die sich in unserer Hosentasche befindet. Keiner wird je Youtube leergucken können. Bei Instagram werden 100 Millionen Storys, Reels, Fotos veröffentlicht – am Tag. Das alles ist Ausdruck der „Verfügbarmachung der Welt“, wie sie der Soziologe Hartmut Rosa in seinen Überlegungen nennt. Immer mehr. Immer schneller. Die absolute Verfügbarkeit von allem zu jeder Zeit. „Das ist ein großer Reiz“, sagt Geißler, „aber der führt zu einem aggressiven Weltverhältnis.“
Am Tegeler See gerate ich irgendwann in ein nachdenkliches Weltverhältnis, während ich meine Nase in Blütenkelche stecke. Reichen ein paar Stunden Naturerfahrung unter Anleitung, um in eine gesündere Beziehung mit der Welt zu treten? Nötig hat sie unsere Gesellschaft allemal.
„Wenn man die Verfügbarkeit immer weiter dreht“, sagt Geißler, „kehrt sie irgendwann als Monster zurück. Und dann wird sie völlig unverfügbar. Das ist dann, auf psychosozialer Ebene, der Burn-out.“ Das Monster ist unter uns. Immer mehr Menschen leiden unter psychischen Erkrankungen. Übermäßige Smartphonenutzung gilt längst als Risikofaktor.
Ein sicherer Weg, dieses Monster anzulocken, ist das Versinken im Smartphone zur Befriedigung der Bedürfnisse. Das Bedürfnis nach Nähe, nach Sexualität, auch die Lust auf Gewalt – wer sein Handy in die Hand nimmt, um sich abzureagieren, wandelt auf gefährlichen Pfaden. „Dann source ich ein ganz wesentliches Element der Menschwerdung, nämlich Affektregulation, an ein Gerät aus. Und das ist sehr schwierig“, sagt Geißler.
Ich behaupte von mir kühn, das Smartphone vornehmlich als Werkzeug zu nutzen. Recherche. Nachrichten. Berufliche Kommunikation. Zwischendurch Katzenvideos, ganz wichtig. Aber warum greife ich selbst in der Supermarktschlange zu dem Ding? Ich glaube, weil ich Langeweile kaum noch aushalte.
Dabei ist sie etwas Großartiges. Manchmal genehmige ich sie mir noch. Das kommt selten vor, aber wenn, dann habe ich gut davon. Ich werde kreativ. Meistens schnappe ich mir dann meine Gitarre oder fange zu dichten an. Ich tue das nur für mich. Es folgt keinem Zweck. Und zahlt doch ein auf mein Wohlbefinden. Es macht zufrieden. Und kann es etwas Schöneres geben, als zufrieden zu sein?
Resonanz als Lösungsansatz ohne Garantie
Wer im Jetzt lebt, lebt länger. Der Effekt, der dem zugrunde liegt, ist die Zeitwahrnehmung. Es gibt sie in Mustern. Im Wartezimmer beim Arzt vergeht die Zeit quälend lang, in der Rückschau erscheint sie kurz. Wenn wir Neues, Aufregendes erleben, ist es umgekehrt. Wer sich durch die sozialen Medien scrollt, lässt beides zusammenschnurren: kurz im Erleben, kurz in der Rückschau. Mal eben Insta checken – schon ist eine Stunde rum, frei von Erlebnissen, Erinnerungen. „Das Krasse ist“, sagt Geißler, „dass das eigentlich eine lebensverkürzende Maßnahme ist, weil uns die erlebte Lebenszeit kürzer vorkommt.“
Wie man da rauskommt? Vielleicht mit der Bereitschaft, sich emotional wieder berühren zu lassen. Was erst einmal rührselig empfindsam klingt, hat im Konzept der Resonanz, von Hartmut Rosa in den Diskurs eingebracht, sein Fundament. „Resonanz heißt, ich bin in einer lebendigen Antwortbeziehung mit meiner Umwelt“, erklärt Geißler. Manchmal ist es schon ein Lächeln, das man erwidert, ein Lied, das uns inspiriert. Erzwingen lässt sich das indes nicht. Eine resonanzoffene Haltung ist zwar hilfreich. „Aber man kann kein Resonanzseminar mit Resonanzgarantie anbieten“, sagt Geißler. „Das funktioniert nicht.“
Auch mein Waldbad vor Berlin garantiert nichts. Wie auch? Mein Smartphone wandert im Rucksack mit, sitzt mir sprichwörtlich im Nacken. Wird mir, kaum zurück an Land, in den Rücken fallen. Das Problem: die Routinen. „Die zu verändern“, sagt Geißler, „dauert so lange, wie sie aufgebaut wurden. Das ist nichts, was man mit einem Waldspaziergang löst.“ Es braucht neue Routinen. Und die alten müssen unattraktiver werden. Geißler selbst führt keinen Kalender auf seinem Smartphone. Um Mails abzurufen, muss er klassisch den Computer hochfahren.
Nützliche Hürden. Für mich sind sie aber nicht praktikabel. Auch das Boring Phone ist nichts für mich. Entschleunigung als Marketing-Gag – bitte nicht. An Blumen riechen und in den Himmel gucken hingegen ist immerhin ein Anfang. Von nun an resonanzoffen im Jetzt leben – ich weiß noch nicht, wie das geht, aber ich habe mir das fest vorgenommen.
Und manchmal ist auch einfach der Weg das Ziel. Ohne es zu forcieren, hat sich meine Handynutzungsdauer im Laufe der Recherche reduziert. Seit Wochen liegt sie stabil bei drei Stunden am Tag. In Spitzenzeiten waren es bis zu sieben.
Gelegentlich ist mir jetzt langweilig. Was für ein großes Glück.