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AgoraphobieWenn die Angst den Weg nach draußen versperrt

Lesezeit 4 Minuten

Die Angst regiert den Alltag. Sie schleicht sich in sämtliche Bereiche des Lebens, bis man ihr irgendwann nur noch entkommen kann, wenn man das Haus nicht mehr verlässt.

Die Angst regiert den Alltag. Sie schleicht sich in sämtliche Bereiche des Lebens, bis man ihr irgendwann nur noch entkommen kann, wenn man das Haus nicht mehr verlässt. So ähnlich fühlen sich Menschen mit Agoraphobie, einer besonderen Form der Angststörung. Die Furcht vor Aufmerksamkeit, vor öffentlichen Plätzen (Agora heißt Marktplatz auf Griechisch), oder davor, einer Situation nicht entfliehen zu können, führe schlimmstenfalls „zur völligen häuslichen Isolation“, schreibt Leonie Jockusch.

Die Autorin, die selbst unter Agoraphobie litt, hat das kürzlich erschienene Buch „Drinnen ist besser“ über dieses Phänomen geschrieben. Dabei gewährt sie nicht nur Einblick in ihre eigene Geschichte, sondern stellt weitere Betroffene vor, die von ihren Erfahrungen mit der Krankheit berichten, und gibt Tipps zur Bewältigung und Therapie. Die Agoraphobie kann durch schwere Trennungen oder Traumata ausgelöst werden, durch Situationen, in denen man das Gefühl hat, die Kontrolle über das eigene Leben verloren zu haben.

Angst vor der Bahnfahrt oder dem Großeinkauf

Ob die Bahnfahrt zur Arbeit, das Essen in der Kantine oder der Einkauf fürs Wochenende - alltägliche Aufgaben werden für Agoraphobiker zu scheinbar unüberwindbaren Herausforderungen. Die 22-jährige Saskia berichtet etwa, dass sie es vermeide am Hauptbahnhof umsteigen zu müssen. „Ich fürchte mich vor zu vielen Eindrücken“, sagt die Studentin. Gerät sie doch einmal in eine Situation, in der die Eindrücke sie überfordern, wie etwa auf Volksfesten oder im Einkaufscenter, bekommt sie Panikanfälle, die sich durch Herzrasen, Atemnot und Angstschweiß äußern.

„Ich fühle mich schutzlos und ausgeliefert“

Ähnlich geht es der im Buch Porträtierten Mira: „Am schlimmsten wird es für mich, wenn ich im Sommer irgendwelche Plätze überqueren muss und an den Seiten überall Leute sitzen, die womöglich Eis essen oder Kaffee schlürfen und als Fernseh-Ersatz ausgiebig die Passanten mustern.“ Sie ertrage es nicht, an diesen Zuschauern vorbeizugehen, sagt die 34-jährige. „Und überall dort, wo große, weite Flächen - sogar grüne, duftende Sommerwiesen - auf mich warten, fühle ich mich schutzlos und ausgeliefert.“

Einen ähnlichen Vorfall schildert die Autorin Jockusch aus ihrer Leidensphase: „Mutlos betrachte ich den Platz, der zu meiner Wohnanlage führt. Dabei fühlt es sich eher an, als wäre es ein tiefes Meer, durch das ich schwimmen muss“, schreibt Jockusch. „Die Weite droht mich schon nur beim Ansehen aufzufressen. Als sie mitten in einer Panikattacke strauchelt, hilft ihr eine Fußgängerin und begleitet sie über den Platz bis zu ihrem Hauseingang. „Sie hat nicht die geringste Ahnung, dass ich mich in Wahrheit fühle, als hätte sie mir gerade das Leben gerettet.“

Häusliche Isolation ist Alltag

Für Thea ist die häusliche Isolation inzwischen Alltag geworden: „Für sie ist jeder Weg nach draußen ein Albtraum, oder eher ein Traum, den sie sich nicht zu erfüllen weiß“, schreibt Jockusch über die 48-Jährige. Schon seit 1993 leidet sie unter Agoraphobie. Eines Tages in einer sehr stressigen Phase ihres Lebens wird ihr in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit übel. „Das war deshalb so schlimm, weil ich fürchterliche Angst hatte, mich gleich übergeben zu müssen.“ Sie flieht an der nächsten Haltestelle aus der Bahn, findet aber kein Geschäft oder Lokal, in dem sie die Toilette benutzen darf. „Da geriet ich in Panik, weil ich das Gefühl hatte, dass mir niemand helfen wolllte und ich ganz allein war.“

Agoraphobie führte zum Jobverlust und zum Ende der Ehe

Inzwischen hat sie durch die Agoraphobie ihren Job verloren, weil sie den Weg zur Arbeit nicht mehr schafft. Außerdem habe sie dazu beigetragen, dass ihre Ehe in die Brüche gegangen sei. Freunde und Familie müssen sie besuchen, weil sie das Haus nicht verlässt. Manche würden ihr das auch übel nehmen, sagt Thea. Auf die Frage, inwieweit sie sich von der Außenwelt isoliert fühle, antwortet Thea: „Total. Die Agoraphobie macht schon einsam. Man bekommt ja nicht so viel von der Außenwelt mit, kann sich höchstens was erzählen lassen.“

Angsttherapie kann sehr gut helfen

Thea hat sich inzwischen an einen ambulanten Pflegedienst für psychisch erkrankte Menschen gewandt. „Seit ein paar Monaten kommt jemand zu mir nach Hause und übt das Rausgehen mit mir.“ Jockusch zeigt am Ende des Buches verschiedene Wege nach draußen in die Welt auf. Wer nur in leichter Form betroffen sei, rät etwa der Diplom-Psychologe Dr. Gerhard Zarbock, sollte die Situationen, in denen die Angst eintritt, auf keinen Fall vermeiden, sondern die Furcht zulassen.

„Zuerst steigt die Angst höher, es wird schlimmer, dann hält man es aus, und dann merkt man, dass es besser wird.“ Wenn jemand mit seiner Angst nicht zurecht komme, sei es aber sinnvoll, „nach kurzer medizinischer Abklärung frühzeitig eine Angsttherapie zu machen“, so Zarbock. „Wahrscheinlich reicht eine Therapie mit zwei Strängen, dazu gehört klare Angstkonfrontation, und dann schaut man, woher das chronisch überhöhte Stresslevel kommt und das Gefühl des Überfordertseins und des Kontrollverlusts.“

Schnelle Besserung durch Therapie

Und der Therapeut macht Hoffnung: „Die Agoraphobie ist eine der wenigen Störungen, bei der man, wenn es sich um klassische Angstsymptomatik handelt, schnelle Besserung versprechen kann.“ Der Weg nach draußen könnte also viel früher frei sein als gedacht.

Drinnen ist besser. Agoraphobie: Wenn die Angst den Weg nach draußen versperrt, 240 Seiten, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2015.