Herr Huff, die Zahl der Rechtsanwälte hat sich seit 1990 verdreifacht. Werden die Deutschen immer streitlustiger?
Die Zahl der zugelassenen 165000 Anwälte klingt zunächst dramatisch. Aber erstens geht die Zahl gerade leicht zurück, und zweitens muss man wissen: In Vollzeit berufstätig sind nur etwa zwei Drittel. Dann haben wir drei große Gruppen: Die Anwälte in eigener Kanzlei machen heute nur noch 30 Prozent aus. 45 Prozent sind in Kanzleien angestellt, weitere 25 Prozent für Unternehmen tätig. Das heißt: Die kleine inhabergeführte Kanzlei ist auf dem Rückzug. Von einer Dominanz der Großkanzleien à la Ally McBeal oder anderer TV-Serien sind wir im Kammerbezirk Köln allerdings noch weit entfernt. Und die Streitlust wird eher geringer. Die Zahl der Zivilprozesse an Amts- und Landgerichten geht dramatisch zurück.
Warum gibt es dann trotzdem so viele Anwälte?
Weil das Leben, gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht, ständig komplizierter wird. Häufiger als früher holen sich die Bürger aus gutem Grund einen Rechtsrat, bevor sie zum Beispiel einen wichtigen Vertrag unterschreiben. Gerade das Arbeitsrecht oder auch das Familien- und das Erbrecht sind zunehmend unüberschaubarere Bereiche. Geschätzt finden 70 Prozent der Anwaltstätigkeit beratend statt, außerhalb von Gerichtsverfahren.
Ist das gut für die Anwälte?
Die meisten Kollegen freuen sich, weil es die Mandanten an sie bindet: Wer sich gut beraten gefühlt hat, kommt dann wieder. Außerdem dauern die Gerichtsverfahren teilweise so lang, dass allen Beteiligten eine außergerichtliche Regelung viel lieber ist.
Gut verglichen ist besser als erfolgreich prozessiert?
Ich finde, ja. Dass die Rechtsberatung einen eigenen Wert hat, müssen wir noch besser einüben. Es ist einfach gut, einen kompetenten Sparringspartner zu haben, wenn man sich auf das Feld des Rechts begibt. Die Verbraucher informieren sich vor einem größeren Kauf über die Qualität der Produkte. Sie lesen für ihre neue Kaffeemaschine den Bericht der Stiftung Warentest, wundern sich aber, wenn mit ungeprüft geschlossenen Verträgen, etwa bei Erbschaften oder Geldgeschäften, irgendetwas schiefgeht.
Mit gesundem Rechtsempfinden kommt man demnach nicht sehr weit?
Das gesunde Rechtsempfinden reicht, wenn es vorhanden ist. Einer meiner Professoren hat immer gesagt: Der junge Jurist hat eine gute Menschenkenntnis, aber keinen Sachverstand. Dann lernt er Juristerei und verliert die Menschenkenntnis. Der gute Jurist hat am Ende beides.
Ein funktionierender Rechtsstaat ist vielen Menschen sehr wichtig. Andererseits sprechen Wörter wie „Paragrafendschungel“, Sätze wie „Zwei Juristen, drei Meinungen“ oder „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“ nicht unbedingt für ein Vertrauensverhältnis der Bürger zu den Institutionen des Rechtsstaats. Wie kommt das?
Gegenfrage: Wo kommen denn viele unserer komplizierten Regelungen her? Man schimpft gern auf die Politik und den Gesetzgeber und vergisst die Tendenz in der Gesellschaft, alles mit aller Gewalt bis ins kleinste Detail regeln zu wollen. Viele sind nicht bereit, Spielräume zu akzeptieren und einfach auch mal nachzugeben. Stattdessen treiben sie die Spezialisierung und die Kleinteiligkeit auf ein Niveau, dass sich selbst versierte Anwälte und Richter schwertun, mitzuhalten. Ich nehme als Beispiel einmal die Frage, was nach deutschem Gesetz ein „Frühstück“ ist: Muss ein Arbeitgeber ein trockenes Brötchen, das er seinen Mitarbeitern morgens hinstellt, lohnversteuern – ja oder nein? Über so etwas müssen am Ende höchste deutsche Gerichte entscheiden.
Wenn sich – wie Sie sagen – selbst Richter schwertun, wie viele Urteile sind dann falsch?
Die Hälfte. Weil immer einer verliert (lacht). Ernsthaft: Wer entscheidet, ob ein Urteil falsch ist? Fehlurteile gibt es, sie sind aber nicht die Regel – und man kann sie in vielen Fällen überprüfen lassen.
Was halten Sie für die derzeit größte Bedrohung des Rechtsstaats?
Die schlechte Ausstattung der Justiz, also der Staatsanwaltschaften und Gerichte. Es braucht zur zügigen Erledigung der vielen Verfahren – etwa vor den Verwaltungsgerichten und im Strafrecht – mehr Richter und mehr Personal. Die Justiz ist die dritte Säule im Rechtsstaat. Sie muss genauso gut ausgestattet sein wie die beiden anderen Säulen, die Gesetzgebung und die Exekutive. Aber die Justiz hat leider nicht die stärkste Stimme. Sie ist in Teilen regelrecht kaputtgespart worden – personell, aber auch technisch. Deswegen kann sie auch im Kampf um die besten Köpfe oft nur schwer mithalten.
Was dürfen die Leserinnen und Leser von Ihrer neuen Kolumne „Recht und Ordnung“ erwarten, die Sie im Wechsel mit einer Juraprofessorin und einer Staatsanwältin schreiben?
Ich möchte Denkanregungen geben: Wann ist es in strittigen Fragen richtig, einen Prozess anzustrengen? Welche Alternativen gibt es, und welche Erfolgsaussichten haben sie? Wie verhalte ich mich im Umgang mit den sozialen Medien richtig? Welche Formen von Kritik muss ich hinnehmen? Wie kann ich mich wirksam wehren? Welche Veränderungen gibt es beim Verhalten im Straßenverkehr?
Aber am Ende steht dann nicht der Rat des Anwalts: Am besten nehmen Sie sich einen guten Anwalt?
Überhaupt nicht. Keine Branchenwerbung, versprochen! Zumal ja dann auch klar sein müsste, wer oder was überhaupt ein „guter“ Anwalt ist (lacht).
Praktische Fragen sind aber schon erlaubt?
Natürlich, und wenn möglich, werde ich sie gerne beantworten. Wobei ich in meiner Doppelprofession als gelernter, langjähriger Journalist – vielleicht wenig überraschend – zu bedenken geben muss, dass kurze, konkrete Antworten auf sehr spezielle Probleme mit Vorsicht zu genießen sind. Auch für den, der die Antworten gibt. Ich wäre versucht zu sagen, „es kommt immer drauf an“ – aber diesen Juristensatz will selbst in einer Jura-Kolumne keiner lesen.