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Zum World Mental Health DaySo können Neurodiverse besser arbeiten

Lesezeit 5 Minuten
Eine Person hat eine Tasche über dem Kopf.

Für neurodiverse Menschen bedeuten Reizüberflutung, Anpassungsdruck und Missverständnisse Stress. „Masking“ ist aber keine gute Lösung..

Betroffene kennen es: Neurodivers zu ein, ist oft herausfordernd, besonders im Job. Eine Expertin erklärt die Herausforderungen und Chancen.

Neurodivers, was bedeutet das eigentlich? Einfach erklärt kann man sagen, dass neurodiverse Menschen im Gehirn etwas anders verdrahtet sind. Der Begriff neurodivers beschreibt Menschen mit Autismus, ADHS, Dyslexie und anderen neurobiologischen „Abweichungen“. Diese sollen nicht als Störungen oder Krankheiten betrachtet werden, sondern einfach als Unterschiede in der Konfiguration der Gehirne.

„Neurodiversität bedeutet, mentale Vielfalt wertzuschätzen“, sagt Simone Burel. Die Sprachwissenschaftlerin und Autorin ist selbst neurodivers, berät Unternehmen und Institutionen. Wertschätzung ist dabei wörtlich gemeint, denn neurodiverse Menschen haben oft besondere Fähigkeiten, wie ein paar der folgenden Beispiele zeigen.

Fähigkeiten, die bei Neurodiversen oft vorkommen

Kreativität und Gegen-den-Strom schwimmen: viele neurodiverse Menschen denken oft außerhalb etablierter Strukturen und bringen frische Perspektiven mit.Detailgenauigkeit: Menschen im Autismus-Spektrum haben oft eine hohe Aufmerksamkeit für Details und Muster.Spezialinteressen: Konzentration und Hyperfokus auf bestimmte Themen oder Aktivitäten können zu tiefem Wissen und Fachkenntnissen führenSchnelligkeit: Menschen mit AD(H)S können beispielsweise besonders schnell Wissen erwerben und abrufenEmpathie: Viele Neurodiverse haben eine tiefe emotionale Empfindsamkeit.

Um ihr Potenzial voll ausschöpfen zu können, brauchen sie häufig andere Arbeitsbedingungen als die meisten anderen. Warum? Und wie schafft man die?

Herausforderungen für neurodiverse Menschen bei der Arbeit

Simone Burel nennt drei Bereiche, die bei neurodiversen Menschen abweichend von sogenannten „neurotypischen“ Menschen sind - und damit besondere Herausforderungen:

1. Unterschiede in der Wahrnehmung

Neurodiverse Menschen nehmen viel um sich herum wahr, so Burel. Auch wie intensiv Sinneseindrücke und äußere Reize wahrgenommen, gefiltert, sortiert und verarbeitet werden, ist anders: „Das kann sich beispielsweise darauf beziehen, dass ein Geräusch laut oder leise, angenehmen oder unangenehm wahrgenommen wird“, erklärt sie. „Manche Töne über 10.000 Hertz sind für mich geradezu schmerzhaft! Ebenso können eine Farbe, eine Lichtquelle oder ein Bodenbelag entweder schön oder anstrengend sein.“ Auch kratzende Kleidung und Texturen beim Essen können für Neurodiverse eine Rolle spielen.

2. Unterschiede in der Verknüpfung von Wissen

Wie nehmen Menschen Wissen auf? Wie werden sprachliche Konzepte wie Lesen und Rechtschreibung, oder numerische und mathematische Konzepte verarbeitet? Wie wird Wissen abgerufen? Strukturiert oder assoziativ – sagst du alles, was dir einfällt oder nur das, was gerade zur Situation passt? Auch das funktioniere bei neurodiversen Menschen anders. Und auch: „Wie sagst du es: mündlich oder schriftlich? Ich bin beispielsweise ein sehr schriftlicher Mensch, weshalb es mich regelmäßig vor Herausforderungen stellt, wenn Menschen mit mir telefonieren anstatt E-Mails schreiben wollen.“

3. Beziehungsgestaltung

„Allgemein sind soziale Kontakte, entweder die Abwesenheit oder die Anwesenheit von anderen Menschen für viele neurodiverse Menschen schwierig. Denn hier gelten Höflichkeits- und Konventionsregeln, die für viele neurodiverse Menschen nicht verständlich sind“, erklärt Burel. Dazu zählt etwa, Notlügen zu nutzen, Tabuthemen zu umschiffen oder die Kamera bei Gesprächen online anzuschalten. Durch die Angst, – vermeintliche – soziale Normen nicht zu erfüllen, „üben“ viele neurodiverse Menschen regelrecht, andere Personen zu imitieren, etwa in Mimik, Gesten, Blickkontakt, und ihre eigenen Verhaltensweisen allmählich zu unterdrücken. Dieses „Masking“ (von engl. mask – Maske) führt jedoch zu noch mehr Stress, sagt Simone Burel. „Viele neurodiverse Menschen bevorzugen daher eher abgeschiedenes und autonomes Arbeiten, da sie nur dann ihre höchste Leistung erbringen können.“ Und auch, weil sie blöde Sprüche, Stigmatisierung und Ausschluss von Gruppen erfahren und Angst davor haben.

Wie können Neurodiverse sich bessere Arbeitsbedingungen schaffen?

1. Selbstermächtigung

„Um gut arbeiten zu können, ist es wichtig, sich selbst aufzuklären und für die eigenen Bedürfnisse und Herausforderungen zu sensibilisieren“ - das ist oft der schwierigste Teil der „neurodiversen Lebens-Reise“, so Burel. Denn „zu sich zu stehen“ und sich nicht zwangsweise an die Mehrheit und deren Verständnis von Arbeitsleben anzupassen, kostet viel Kraft und Selbstvertrauen.Hier für sich klar zu sein, helfe aber, klar zu kommunizieren, was individuell benötigt wird, „gerade wenn neurodiverse Menschen in größeren Organisationen arbeiten“.

2. Offene Kommunikation

„Reden über die eigene Neurodiversität entlastet. Denn nur wenn andere Bescheid wissen, wie es einzelnen neurodiversen Menschen wirklich geht, können sie langfristig Verständnis aufbauen und sich auf Arbeitsweisen einstellen.“ Sie rät, offen mit Vorgesetzten oder der Personalabteilung zu sprechen, da Arbeitgebende oft bereit sind, Anpassungen vorzunehmen, wenn sie wissen, was erforderlich ist. Gerade wenn es um Arbeitszeiten oder -räume geht.

Und: „Awareness und Offenheit hilft allen“, sagt Simone Burel. Sie verweist auf eine Variante des sogenannten Diana-Effekts: So sei es oft so, dass nach dem Outing von Führungskräften auch andere Teammitglieder transparenter über ihre eigenen Probleme wie psychische Krankheiten redeten. Oder sogar Therapien beginnen.

3. Netzwerke und Verbündete

„Ich kann nur raten: Suchen Sie sich Unterstützung! Ob am Arbeitsplatz oder in Freundeskreisen, Familien oder speziellen Netzwerken und Selbsthilfegruppen“, so Burel. In internen oder externen Netzwerken für neurodiverse Menschen könne man sich einen Safer Space, also eine geschützte soziale Umgebung aufbauen, und der Austausch könne für wertvolles Erfahrungswissen sorgen.

„Gemeinsam fühlen wir uns auch stärker. Daher empfehle ich auch, neurotypische Kollgegen und Kolleginnen zu finden, die als sogenannte Allies die eigenen Anliegen unterstützen und sich ebenfalls für ein neuroinklusiveres Arbeitsumfeld einsetzen.“

4. Selbstfürsorge

„Last but not least“ ist Selbstfürsorge gerade für neurodiverse Personen unerlässlich, so Burel. „Pausen, Bewegung und Kurz-Entspannungstechniken wie das Wechselatmen aus dem Yoga helfen, Stress abzubauen und die Produktivität wiederzuerlangen – diese sollten natürlicherweise in den Arbeitstag integriert werden.“

Was wenn Betroffene auf Unverständnis oder Ablehnung stoßen?

Auch beim World Mental Health Day in diesem Jahr, der am 10. Oktober bestritten wird, ist die mentale Gesundheit bei der Arbeit das große Thema. Wer hier verurteilt wird oder missbilligende Blicke erfährt, kann physisch darunter leiden und eventuell auch schlechtere Leistung bringen. „Es kann sehr herausfordernd und verletzend sein, auf Unverständnis oder Ablehnung zu stoßen, wenn über die eigene Neurodiversität gesprochen wird“, spricht Simone Burel aus eigener Erfahrung.

Ihr Rat: „In solchen Situationen ist es hilfreich, sachliche Informationen und wissenschaftliche Erkenntnisse über Neurodiversität zu teilen, um Missverständnisse und Vorurteile abzubauen.“

Aber: „Gleichzeitig ist es zentral, sich seiner eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse bewusst zu sein und zu ihnen zu stehen, ohne sich von negativen Kommentaren entmutigen zu lassen.“

In schwierigen Situationen könne professionelle Unterstützung durch Therapeutinnen oder Berater, die Erfahrung mit Neurodiversität haben, sehr hilfreich sein.

„Für mich hat sich diese Regel bewährt: Love it, leave it, change it or accept it. Wenn alles nicht hilft, ist manchmal der Exit die gesündeste Lösung, denn Systeme brauchen sehr lang, bis sie sich ändern – das abzuwarten, kann für die eigene mentale Gesundheit enorm belastend sein.“ (lkl mit dpa)