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Vegetarisch und veganKann fleischloses Essen unseren Planeten retten?

Lesezeit 7 Minuten
ARCHIV - 11.10.2021, Baden-Württemberg, Böhmenkirch: Schweine liegen in der Bucht eines Tierwohl-Schweinestalls. Die geplante staatliche Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch im Supermarkt nimmt weiter Gestalt an. (zu dpa «Schwarz-weißes Rechteck als neues Tierhaltungs-Logo geplant») Foto: Marijan Murat/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

"Tiere zu essen bedeutet intensive Nutztierhaltung und das bedeutet viel Leid für die Tiere. Wir wissen, dass Tiere Schmerzen empfinden können, dass sie spielen wollen, dass sie soziale Wesen sind", sagt Joël Luc Cachelin im Interview.

Kann fleischloses Essen unseren Planeten retten? Ja, sagt Ökonom und Futurist Joël Luc Cachelin. Er hat ein ganzes Buch darüber geschrieben. Im Interview erklärt er, warum diese Utopie funktionieren kann.

Herr Cachelin, Sie haben mit „Veganomics“ ein Plädoyer für eine vegane Zukunft geschrieben. Was ist denn so schlimm daran, Tiere zu essen?

Tiere zu essen bedeutet intensive Nutztierhaltung und das bedeutet viel Leid für die Tiere. Wir wissen, dass Tiere Schmerzen empfinden können, dass sie spielen wollen, dass sie soziale Wesen sind. Trotzdem halten wir sie unter schrecklichen Bedingungen. Das Töten dieser Tiere ist dann oft weniger schlimm als ihr Leben. Diese Argumente sind weitum bekannt, weniger bekannt ist, dass die Nutztierhaltung auch für die Gesundheit des Planeten sehr schädlich ist.

Man weiß ja, dass Rinder viel CO₂ ausstoßen. Der CO₂-Ausstoß der Viehwirtschaft ist dreimal größer als jener der Flugindustrie. Zudem gibt es einen hohen Produktionsdruck, weil Unmengen an Futter hergestellt werden muss. Dafür muss intensiv Landwirtschaft betrieben werden. Der Dünger ist schädlich für das Grundwasser und die in der Nutztierhaltung eingesetzten Antibiotika führen dazu, dass diese bei den Menschen immer schlechter wirken. Ökologisch gesehen können wir also nicht so weiteressen.

In „Veganomics“ ist die Welt in zwei Teile geteilt: „Karnivoria“, die unserer heutigen Realität mit Fleischkonsum gleicht, und „Vegania“, welche aus vier Inseln besteht. Warum braucht es eine Alternative zu „Karnivoria“?

Wir steuern auf eine Ernährungskrise zu. Die Menschen essen weltweit immer mehr Fleisch, die Qualität der Böden verschlechtert sich und der Klimawandel schreitet voran. Im Buch gibt es ein fiktives Schlüsselereignis, das einen Teil der Menschen zum Umdenken bringt: Eine Pandemie der Nutztiere, der Nutzpflanzen und der Menschen geschehen gleichzeitig – der „perfekte Sturm“. Vegania beschließt daraufhin, eine Zukunft ohne Nutztiere anzustreben. Die Inseln setzen dieses Ziel allerdings jeweils unterschiedlich um.

Wie unterscheiden sich die vier Inseln voneinander?

„Chlorella“ ist eine reine Pflanzenstadt und damit die offensichtlichste Version einer veganen Zukunft. Bei den „High Tech Islands“ steht das Thema Laborfleisch und -fisch im Vordergrund. Dann gibt es die Insel „Tenebrio“. Die Menschen dort halten und essen Tiere mit einem einfacheren zentralen Nervensystem, zum Beispiel Insekten und Quallen. Auf „Zirkula“ geht es in erster Linie um Nachhaltigkeit und ein gelingendes Kreislaufsystem. Es gibt Tiere und wenn sie eines natürlichen Todes sterben, werden sie auch gegessen.

Jede Insel verfolgt ihre eigene Ideologie ohne die Rohstoffe der Tiere mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen. Sie essen anders, kleiden sich anders und stellen Möbel anders her.

Auf den „High Tech Islands“ werden nicht nur Laborschnitzel produziert, sondern auch Teile des menschlichen Körpers. Medikamente werden mit Computermodellen getestet. Wie leben die Menschen auf „Chlorella“ ohne diese Forschung?

Diese Inseln sind nicht komplett voneinander isoliert. Sie betreiben Handel und tauschen Wissen aus. So profitiert „Chlorella“ von der Wissenschaft der „High Tech Islands“ und diese von den Textilien der Pflanzenstadt. Ich wollte zeigen, dass es nicht nur eine vegane Zukunft gibt, sondern ganz unterschiedliche mit unterschiedlichen Zukunftsmärkten und -technologien.

Also soll es am Ende gar keinen Gewinner geben?

Nein. „Vegania“ soll die Parallelität der Möglichkeiten, die Innovationspotenziale und die Notwendigkeit, Wissen zu tauschen und zu handeln, zeigen.

Das setzt natürlich auch voraus, dass es keine ideologischen Grenzen gibt ...

Genau. Es ist ein anderes Wirtschaftssystem und basiert darauf, Wissen, Daten und Erfahrung zu teilen. Das ist anders als heute, wo alle Länder und Unternehmen ihr Wissen unbedingt für sich behalten wollen. Bei „Vegania“ geht es darum, gemeinsam etwas Neues zu schaffen.

Die Menschen auf „Chlorella“ erforschen viele neue Pflanzenarten, aber essen auch Ersatzprodukte. Sind diese hochverarbeiteten Lebensmittel nicht ungesund wegen der ganzen Zusatzstoffe?

Ich kaufe sie auch ab und zu – ein bisschen aus Faulheit. Das ist wie Fast Food. Aber diese Fleischersatzprodukte sind eigentlich keine nachhaltige Lösung. Die brauchen viel Energie, wenn sie produziert werden. Und es stimmt: Häufig sind sie zu stark verarbeitet. Die interessante Frage ist aber: Warum greifen die Menschen trotzdem zu diesen Produkten? Ich glaube, es hat sehr viel mit kultureller Verankerung zu tun.

Wie meinen Sie das?

Fleisch ist kulturell gesehen ein Zeichen von Wohlstand und von Männlichkeit. Wenn man vegan isst, muss man sich immer abgrenzen gegenüber anderen Formen der Ernährung. Nehmen wir mal das Thema Grillen: Wenn man eine vegane Wurst statt eines Maiskolbens grillt, ist das wie die natürliche Fortsetzung des Grillfestes. Die anderen merken vielleicht gar nicht, dass die Wurst anders ist.

Sie schreiben, selbst eine vegane Zukunft erscheine derzeit weit weg. Warum kann sie trotzdem funktionieren?

Immer mehr Menschen in industriellen Ländern wie Deutschland oder der Schweiz essen vegan oder vegetarisch. Insgesamt ist zwar nur circa ein Prozent der Bevölkerung komplett vegan, aber es gibt Treiber, die der veganen Ernährung in die Hände spielen. Die Sensibilität für das Wohl der Tiere und das Bedürfnis, sich gesund mit weniger rotem Fleisch zu ernähren, nehmen zu.

Der größte Treiber ist aber die Notwendigkeit, aus ökologischen Gründen das globale Ernährungssystem zu verändern. Die industrielle Tierhaltung ist auch ineffizient, das ist problematisch für eine globale Bevölkerung, die weiter um Milliarden wachsen wird. Pflanzen, die der Mensch direkt essen könnte, werden durch die Körper der Tiere veredelt, die aber eben gefüttert werden müssen. Der Platz- und Wasserbedarf ist dadurch sehr hoch.

Wenn ich sage, dass ich vegetarisch esse, höre ich oft: „Das geht ja noch.“ Vegan empfinden viele als zu extrem. Was muss passieren, damit der vegane Burger genauso attraktiv wird wie der Fleischburger?

Viele Leute denken, ein veganer Lebensstil sei wahnsinnig einschränkend. Sie sehen nur den Verzicht anstatt die Möglichkeit, neue Lebensmittel und neue Zubereitungsweisen kennenzulernen. Genauso könnte man übrigens argumentieren, dass die Art und Weise, wie wir Tiere halten, extrem ist. In „Veganomics“ habe ich versucht, möglichst positiv zu arbeiten. Menschen in den alternativen Welten geht es gut, denen fehlt nichts.

Sie sagen auch: Fleisch muss teurer werden. Diskriminiert das dann nicht letztlich nur die Menschen, die eh schon wenig Geld haben?

Ja, das ist ein Zielkonflikt. Da stehen sich ökologische und soziale Argumente gegenüber. Ich bin mir selbst nicht sicher, wie man damit umgehen soll, glaube aber auch, es gibt kein Grundrecht, Fleisch und Käse essen zu können.

Landwirtinnen und Landwirte kämpfen häufig jetzt schon um ihre Existenz. Nicht alle können auf ihren Äckern einfach Pflanzen anbauen. Wie sollen diese Menschen mitkommen in eine vegane Welt?

Wir bräuchten eine andere Subventionspolitik. Dann würden die Bauern mehr Subventionen bekommen, wenn sie auf ihren Feldern Sonnenblumen oder Süßlupinen anbauen. Der Staat hat mächtige Gestaltungsmöglichkeiten. Und ich glaube, die Entwicklung hin zu einer Landwirtschaft mit viel weniger tierischen Produkten wird sich rückblickend wie ein natürlicher Prozess anfühlen.

Ich habe viel zu Digitalisierung geforscht und da hat man vor 15 Jahren auch gedacht, die Welt geht unter und niemand wird mehr Arbeit haben. Heute wissen wir, dass die Angst nicht begründet war. Durch die Digitalisierung sind auch viele Jobs entstanden. Das wird in einer technologisch aufgerüsteten und veganen Landwirtschaft ebenfalls der Fall sein.

Ist Digitalisierung denn so das geeignete Vorbild, wenn man sich überlegt, wie zäh dieser Wandel vorangeht?

Wir dürfen bei beiden Themen nicht den Fehler machen, zu denken, die Welt verändert sich innerhalb von fünf Jahren. Wir reden hier von Jahrzehnten. Natürlich geht es mir auch viel zu langsam mit gewissen Digitalisierungsvorhaben. Aber wenn wir 20 Jahre zurückschauen, hat sich dann doch einiges verändert. Es gab keine Smartphones, keine mobilen Tickets, keine sozialen Medien. Es ist auch die Frage: Schaut man aus der Gegenwart auf die Dinge oder schaut man 30 Jahre zurück? Das verändert die Relationen enorm.

In Israel und der Ukraine herrscht Krieg, in afrikanischen Ländern dominiert Fleisch den Speiseplan. Ist die vegane Welt in anderen Ländern überhaupt umsetzbar?

Wenn man die globale Perspektive einnimmt, wird es natürlich komplexer und wir erleben eine geopolitische Situation, in der es für Themen wie eine vegane Ernährung keinen Platz mehr gibt. Aber gerade hochentwickelte, wissensstarke Länder wie die Schweiz und Deutschland könnten global Vorbildrollen einnehmen. Sie können Veränderungen anstoßen und Wissen erarbeiten, dass irgendwann für andere Länder nützlich ist.

„Veganomics“ argumentiert sehr wirtschaftlich. Wer zuerst die Märkte der Zukunft erobert, kann später von den Skaleneffekten profitieren. Es ist zu hoffen, dass Europa nicht wie bei der Digitalisierung den Anschluss an die USA und China verpasst.

Sie nehmen vor allem die Regierung, die Politik, in die Verantwortung und weniger den einzelnen Menschen ...

Es sind alle gefordert. Jeder und jede kann jeden Tag dreimal am Tag entscheiden, was esse ich und was nicht. Das ist ganz wichtig. Dann gibt es die politische Ebene, die Gesetze erlassen, die Steuern einführen kann. Und es gibt noch die unternehmerische Ebene, wo es darum geht, neue Unternehmen zu gründen oder Unternehmen zu verändern. Diese Unternehmen haben eine sehr starke Verantwortung. Ich glaube, Zukunft entsteht im Dreispiel dieser drei Kräfte.

Bevor Sie das Buch geschrieben haben, haben Sie vegetarisch gegessen. Warum dachten Sie nach der Recherche, dass das nicht reicht?

Wir machen den Planeten kaputt mit der Art und Weise, wie wir essen. Ich bin Zukunftsforscher, ich habe eigentlich viel Lust auf die Zukunft. Aber wenn ich sehe, wie wir essen, fällt es mir schwer, zuversichtlich zu sein. Wenn Lebensmittel und Wasser knapp werden, dann gibt es zusätzliche Konflikte in einer Welt, die sich im Moment sowieso durch Konflikte auszeichnet. Und mir persönlich tut es seelisch weh, wenn ich Bilder aus Massentierhaltungen sehe. Wie man Verletzungen in Kauf nimmt, dass die Tiere unterwegs sterben oder noch nicht ganz tot sind. Und das passiert jeden Tag Millionen von Tieren.

Wie sähe denn eine Welt aus, in der der vegane Wandel nicht gelingt?

Die Wahrscheinlichkeit von Pandemien nimmt zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass immer mehr Menschen aufgrund von Antibiotikaresistenzen sterben, steigt. Die Qualität der Böden wird schlechter. Mittelfristig würde das zu einer abnehmenden Lebenserwartung führen – zumindest bei denen, die sich keine Nahrungsergänzungsmittel und Biolebensmittel von gesunden Böden mehr leisten können. Das ist etwas, was man heute schon erkennen kann: eine Polarisierung der Lebenserwartung. Und man verpasst es, über die Landwirtschaft dämpfend auf den Klimawandel einzuwirken.

Was wäre der erste Schritt in Richtung vegane Zukunft?

Es gibt unterschiedliche erste Schritte, je nach Akteur oder Akteurin. Ich glaube, vegane Ernährung ist ein Bildungsthema für angehende Gastronominnen und Gastronomen, aber auch für die Kinder. Woher kommen die Lebensmittel? Wie leben die Nutztiere? Was sind die Auswirkungen der intensiven Nutztierhaltung für die Böden und das Wasser? Man sollte sich mit dem, was man isst und kauft, beschäftigen.

Auch der Preis ist entscheidend. Generell geben wir heute viel zu wenig für unsere Nahrung aus. Ersatzprodukte müssten schnell günstiger als Fleisch werden. Aber das ist absurderweise noch immer nicht der Fall.

Wir haben diesen Artikel zuletzt am 30. September 2024 aktualisiert. Erstmals erschienen ist er am 19. Oktober 2023.