Nach UrteilWas die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für Arbeitnehmer bedeutet
Köln – Freitagnachmittag, Feierabend, die 40-Stunden-Woche ist geschafft. Aber waren das überhaupt 40 Stunden? Oder nicht eher 45? Wer ohne Zeiterfassung arbeitet, wird das nur schwer beantworten können. Das könnte sich nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts bald ändern: Seit Mitte September besteht in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Ist das ein Grund zum Jubeln für Arbeitnehmende, weil die vielen unbezahlten Überstunden jetzt endlich ausgeglichen werden? Oder dient die Arbeitszeiterfassung eher Arbeitgebern zur Überwachung der Leistung ihrer Angestellten? Eine Arbeitsrechtlerin und ein Arbeitswissenschaftler geben Antworten.
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (1ABR 22/21) fußt auf einer Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2019. Demnach sind die EU-Länder zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung verpflichtet. In die Pflicht genommen werden in erster Linie die Arbeitgeber: Sie sind „verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“, so das Gericht. Weil Arbeitnehmende den Anspruch haben, nicht auf Vertrauen arbeiten zu müssen. Bei der Umsetzung kommen aber auch sie ins Spiel.
Ist die Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung gut oder schlecht für mich?
„Arbeitnehmer profitieren von der Arbeitszeiterfassung, da damit geleistete Arbeit transparent und unbezahlte Arbeit vermieden wird“, sagt Dr. Nathalie Oberthür, Kölner Fachanwältin für Arbeitsrecht. Auch Arbeitswissenschaftler Dr. Nils Backhaus von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund bewertet das Urteil positiv: „Aus Arbeitsschutzsicht ist die vollständige Verpflichtung zur Aufzeichnung ein Gewinn.“ Nur so könnten wesentliche Standards wie Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten oder auch Wochenendarbeit sichergestellt werden. Zudem erleichtere die Erfassung von Arbeitszeit „gerade in Berufen, wo der Kopf schon mal gedanklich weiterarbeitet, das Abschalten von der Arbeit und für viele Beschäftigte das Trennen von Privatleben und Beruf.“
Aus Sicht von Nathalie Oberthür profitieren „besonders Arbeitnehmer in Branchen, in denen häufig (unbezahlte) Überstunden geleistet werden.“ Auch Nils Backhaus sieht hier einen großen Vorteil für Arbeitnehmende: „Nur, wenn Arbeitszeiten erfasst werden, können Beschäftigte auch hohe Belastungen ausgleichen, Überstunden durch Freizeit abbauen.“
Ich arbeite aktuell in Gleitzeit, das funktioniert sehr gut. Nimmt das Urteil mir meine Flexibilität bei der Arbeitszeit?
„Das Arbeiten wird so flexibel sein können wie bisher“, versichert Nathalie Oberthür. Nils Backhaus sieht eine flexible Arbeitszeit durch das Urteil ebenfalls nicht gefährdet. „Im Gegenteil: Wie wollen Sie eine Gleitzeitregelung umsetzen, wenn Sie die Arbeitszeiten nicht erfassen? Dazu müssen Sie aufzeichnen, nur so kann an einem Tag länger gearbeitet werden und dafür dann an einem anderen Tag kürzer oder sogar ein ganzer Tag freigenommen werden.“ Auch die Forschung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zeige, dass Arbeitszeiterfassung und Arbeitszeitkonten einen notwendigen Bestandteil von Flexibilität für Beschäftigte darstellen.
Was muss ich als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer nun genau tun?
Zunächst ist der Arbeitgeber am Zug. Er muss eine Methode einführen, mit der die Arbeitszeit erfasst werden kann. Diese muss dann – je nach Methode – von ihm oder von den Arbeitnehmenden ausgefüllt werden. Ob Stempeluhr, Excel-Tabelle oder App, pauschal lasse sich nicht beantworten, welche Methode die beste sei, so Nathalie Oberthür. Nils Backhaus findet digitale oder elektronische Lösungen „sicherlich am einfachsten.“ So sollte die Arbeitszeit auch mobil erfasst werden können, „damit die Beschäftigten von jedem Ort aus ihre Arbeitszeiten erfassen können.“ Wichtig sei für ihn aber auch, „dass Beschäftigte die Arbeitszeiten gegebenenfalls korrigieren können und nicht das Gefühl bekommen, überwacht zu werden.“ Er empfiehlt, dass Beschäftigte vor der Einführung mitgenommen und einbezogen werden.
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Wie penibel muss ich meine Arbeitszeit dokumentieren? Müssen Toilettengänge oder Raucherpausen eingetragen werden?
„Streng genommen kommt es auf jede Minute an“, sagt Nathalie Oberthür. Ist bei der Arbeitszeiterfassung also Erbsen zählen angesagt? Das wird sich noch zeigen. „Man wird die Begründung des Urteils abwarten müssen. Und auch die betriebliche Praxis bewerten.“ Der Definition nach sind Pausen, die nicht als Arbeitszeit zählen, „Arbeitsunterbrechungen, in denen weder Arbeit geleistet wird, noch sich der Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung bereithalten muss“, erklärt Nathalie Oberthür. Im Arbeitsalltag bedeutet das: „Kurze Toilettengänge zählen üblicherweise zur Arbeitszeit, Raucherpausen in der Regel nicht.“
Welche Regelungen gelten im Homeoffice? Muss ich den Gang zum Briefkasten von der Arbeitszeit abziehen?
„Wir sehen in unseren Befragungsdaten, dass ein überwiegender Teil der Beschäftigten sich eine Trennung von Privatleben und Beruf wünscht“, sagt Nils Backhaus. Im Homeoffice kann das schnell mal durcheinandergeraten. Hier kann die Erfassung der Arbeitszeit helfen, einen klaren Arbeitsbeginn sowie einen klaren Feierabend zu definieren. Zudem verleitet das Homeoffice einige sicher dazu, kleine private Erledigungen wie den Gang zum Briefkasten zwischendurch zu erledigen. Wie trägt man das in die Arbeitszeiterfassung ein? Auf keinen Fall als Arbeitszeit, betont Nathalie Oberthür. Der Gang zum Briefkasten oder das schnelle Anstellen der Waschmaschine „sind private Verrichtungen, die außerhalb der Arbeitszeit vorgenommen werden sollten.“
Ich habe das Gefühl, dass mein Arbeitgeber die Arbeitszeit nicht richtig erfasst. Was kann ich tun?
Erfasst man seine Arbeitszeit nicht selbst, „besteht die Möglichkeit, die Erfassung des Arbeitgebers durch eigene Kontrollaufzeichnungen zu verifizieren“, rät Nathalie Oberthür. „Bei fehlerhafter Aufzeichnung kann man sich an den Betriebsrat oder an einen Rechtsanwalt wenden.“