AboAbonnieren

AufmerksamkeitsstörungLernen klappt nur unter der Dusche

Lesezeit 5 Minuten

ADHS und ein Studium schließen sich nicht aus. Julian musste Medikamente nehmen, die ihm halfen, sich zu konzentrieren. Symbolfoto: Picture Alliance

Köln – Von außen erscheint Julians (Name geändert, der richtige Name ist der Redaktion bekannt) Leben anderen Menschen häufig beneidenswert. Im achten Semester seines Jurastudiums steckt er bereits in den Abschlussprüfungen. Seine Leistungen sind überdurchschnittlich, er hat gleich zwei Jobs an rechtswissenschaftlichen Instituten der Kölner Uni und arbeitet außerdem für einen Rechtsanwalt. Sein Freundeskreis ist groß, er hat eine schöne Wohnung im Agnesviertel.

Doch wenn Julian beginnt, seine Geschichte zu erzählen, wandelt sich das Bild. Der 27-Jährige leidet unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Diese ist bei ihm nicht, wie so häufig, im Kindesalter diagnostiziert worden. Erst seit wenigen Monaten weiß der Student, warum viele Dinge in seinem Leben anders laufen.

Da wäre zum einen das Lernen, das für ihn eine unglaubliche Qual ist. Denn egal, ob Julian versucht, ein paar Karteikarten durchzugehen oder sich in der Uni-Bibliothek zu konzentrieren – es gelingt ihm nicht. Selbst durch die Ohrstöpsel, die er trägt, dringt jedes Papierrascheln zu ihm durch, und er kann dem Impuls nicht widerstehen, sich sofort danach umzudrehen.

Alles zum Thema Universität zu Köln

Lernen unter der Dusche

Nach vielen gescheiterten Versuchen in den ersten Semestern verlagert er deshalb das Lernen nach Hause. Dort läuft er ununterbrochen durch die Wohnung, während er lernt. Er versucht es beim Spülen, doch die Karteikarten werden nass. Seit dem dritten Semester lernt er für jede Klausur unter der Dusche, klebt die Karteikarten von außen an die Glaswand. Nur wenn er während des Lernens zusätzlich mit dem Regulieren der Temperatur und dem Einshampoonieren beschäftig ist, hat er genügend Interaktion auf einmal. Das führt dazu, dass er in Klausurphasen 30- bis 40-mal am Tag duscht. „Ich fand es zwar komisch, habe jedoch gedacht: Wer weiß, wie die anderen lernen? Jeder hat doch irgendwelche Marotten.“

Eine zufällige Begegnung mit einer Psychologin brachte ihn darauf, dass er von ADHS betroffen sein könnte. Zunächst hielt er die Vermutung für abwegig und die Störung für ein gesellschaftliches Konstrukt. Doch nachdem er sich mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt hat, beginnt er sich zu fragen: „Könnte ADHS die Ursache für meine Depressionen sein? Die Ursache dafür, dass ich mich nicht an Regeln halten kann?“

ADHS auch im Erwachsenenalter

ADHS tritt nicht nur bei Kindern und Jugendlichen auf. Laut Bundesärztekammer hält die Störung in mindestens einem Drittel der Fälle auch im Erwachsenenalter an. Die Kernsymptome sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Melanie Koch von der Psycho-Sozialen Beratung des Kölner Studentenwerks weiß, wie schwer es für Studenten mit ADHS ist, Studium und Alltag zu meistern. Die Psychologin betreut in einem Kooperationsprojekt des Studentenwerks mit der Uni Köln ein Training, das Betroffenen helfen soll, ihr Leben besser in den Griff zu bekommen.

Auch Julian hat daran teilgenommen, nachdem die Diagnose bei ihm gestellt worden war. Als er sich im Dezember 2011 zu einer Spezialistin für erwachsene ADHS-Patienten begibt, stellt sich schnell heraus, dass er Symptome wie fehlende Konzentration aufweist. Das allein könnten jedoch Dinge sein, die jeder aus seinem Alltag kennt. Voraussetzung für die Diagnose im Erwachsenenalter ist, dass zwei Bereiche des Lebens in erheblichem Maße eingeschränkt werden und die Symptome eindeutig bis ins Kindesalter zurückverfolgbar sind. Denn ADHS entsteht nicht plötzlich im Erwachsenenalter.

Training soll Aufmerksamkeit steigern

Bei vielen der Studenten, die das Training der Uni besuchen, ist ADHS nie zuvor festgestellt worden. Mithilfe von Fragebögen und Gesprächen prüft Psychologin Koch vorab, ob die Teilnehmer die Diagnosekriterien erfüllen: „Wenn keine schwerwiegenden anderen psychischen Erkrankungen vorliegen, wird aber niemand vom Training ausgeschlossen, bei dem die Diagnose nicht zu 100 Prozent gesichert ist“, sagt Koch.

Ziel des Trainings ist es, den Studenten zu helfen, ihre Aufmerksamkeitsspanne zu steigern, Prioritäten in der Aufmerksamkeit zu setzen und im Studium und Alltag feste Abläufe zu schaffen. Jeder Teilnehmer setzt sich Ziele, über die er in der Gruppe spricht. Manche dieser Ziele scheinen von außen banal: etwa, das Geschirr nach dem Frühstück gleich abzuspülen, damit sich keine Tellerberge stapeln. Oder endlich alle Scheine bei den Professoren abzuholen. Finanziert wird das Projekt durch den Studierendenförderungsfonds und die Uni Köln.

Medikament bringt neue Lebensqualität

Die Diagnose bringt für Julian auch die Einnahme eines Medikamentes gegen Hyperaktivität mit sich. Zunächst ist er skeptisch: „Ich kannte Leute aus dem Studium, die es zur Leistungssteigerung genommen haben.“ Er hat Angst, ein Stück Persönlichkeit einzubüßen, Angst, dass das Medikament ihn verändert. Mittlerweile hat er herausgefunden, dass ihn das Mittel nicht leistungsstärker macht, aber ihm ermöglicht, was anderen Menschen ohne stetige Qualen gelingt: ein Ziel zu verfolgen und etwas zu Ende bringen. In der Bibliothek zehn Seiten am Stück lesen. To-do-Listen schreiben und einen Terminkalender führen.

„Für mich ist es eine neue Welt. Endlich habe ich die Chance, mich verwirklichen zu können.“ Das Training war ein Anstoß für die Umstrukturierung. Die Techniken, die er gelernt hat, helfen ihm, Dinge nun zu Ende zu bringen. Heute kann Julian sich bewusst entscheiden, das Lernen mal zu unterbrechen – und nicht, weil ein äußerer Impuls ihn dazu zwingt.

Das AD(H)S-Kompetenztraining für Studierende startet alle sechs bis acht Wochen. Für die sechs Sitzungen à drei Stunden fällt für die Studenten ein Kostenbeitrag von 50 Euro an. Die Trainings finden in der Klosterstraße 79b, Etage 1, Raum 9 statt. Weitere Informationen gibt es unter 02 21/ 4 70 47 24 sowie online unter www.adhs-projekt.uni-koeln.de