StilkolumneHeißt es nun der oder das Coronavirus?
- Aber bitte mit Stil! In unserer Kolumne „Wie geht’s?“ dreht sich alles um das richtige Verhalten. Ob bei offiziellen Anlässen, beim Essen, im Gespräch oder vor dem Kleiderschrank.
- Protokollchefin i.R. Ingeborg Arians, Redakteurin und Modeexpertin Eva Reik, Restaurant-Chef Vincent Moissonnier sowie Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch schreiben abwechselnd über das richtige und stilvolle Auftreten.
- Diesmal erklärt Anatol Stefanowitsch, ob es der oder das Virus heißt. Und warum es durchaus nützlich sein kann, einen bestimmten Artikel zu benutzen.
Köln – Seit Beginn der Corona-Pandemie höre und lese ich immer häufiger „der Virus“, sogar auf der Webseite des Tropeninstituts. Dabei muss es doch „das Virus“ heißen, wegen der Herkunft des Wortes aus dem Lateinischen. Mir ist bewusst, dass ich vielleicht etwas kleinlich klinge, da uns die Pandemie vor viel größere Probleme stellt. Aber sollten wir nicht auch auf sprachliche Präzision achten?Stefan S., 58
Sprachgeschichtlich betrachtet, haben Sie recht. „Virus“ ist im Lateinischen ein Neutrum und wurde so auch ins Deutsche entlehnt. In der Fachsprache und anderen eher schriftsprachlichen Zusammenhängen, auch in den Medien, liest man deshalb fast immer „das Virus“. Aber in der Umgangssprache hat sich schon lange vor der Pandemie die maskuline Alternative „der Virus“ etabliert. Sie findet von dort aus auch immer wieder ihren Weg in formalere Texte.
Dieser Wandel im grammatischen Genus lässt sich am ehesten mit einem Analogieschluss erklären. Die meisten Wörter, die auf „-us“ enden, sind Maskulina — „Globus“, „Kaktus“, „Luxus“, „Modus“, „Radius“, „Rhythmus“, „Zyklus“. Immer heißt es „der“. Da liegt es nahe, dieses Muster auf die wenigen Wörter zu übertragen, die sich sprachgeschichtlich eigentlich anders verhalten. Unterstützt wird diese Tendenz vermutlich durch die Tatsache, dass Maskulina und Neutra sich nur im Nominativ und Akkusativ unterscheiden. Im Dativ („die Angst vor dem Virus“) und im Genitiv („die Eigenschaften des Virus“) sind beide Genera identisch.
„Wie geht’s?“
In unserer Kolumne beantworten vier Experten abwechselnd in der Zeitung Ihre Fragen zum stilsicheren Auftreten in allen Lebenslagen. Ingeborg Arians, Protokollchefin der Stadt Köln a.D., weiß, wie man sich bei offiziellen Anlässen richtig verhält. Journalistin Eva Reik kennt sich bestens aus mit Mode und der passenden Kleidung zu jeder Gelegenheit. Vincent Moissonnier, Chef des gleichnamigen Kölner Restaurants, hat die perfekten Tipps zu Tischmanieren ohne Etepetete. Und Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaft, sagt, wie wir mit Sorgfalt, aber ohne Krampf kommunizieren. (jf)
Senden Sie uns Ihre Fragen bitte per Mail an:Stilkolumne@dumont.de
Wenn dieser Wandel vom Neutrum zum Maskulinum ein Problem darstellt, dann wohl hauptsächlich ein ästhetisches, und auch das nur für diejenigen, die sich an die sprachgeschichtlich richtige Form gewöhnt haben. Die sprachliche Präzision wird dadurch nicht gefährdet — „der neuartige Coronavirus“ bezieht sich ebenso eindeutig und unmissverständlich auf SARS-CoV-2 wie „das neuartige Coronavirus“. Dass Sprache sich ständig verändert, ist ihre einzige unveränderliche Eigenschaft. So kann man Sprachwandel nur akzeptieren oder sich daran aufreiben — aufhalten wird man ihn am Ende in den meisten Fällen nicht.
Das könnte Sie auch interessieren:
In diesem speziellen Fall würde ich die Hoffnung aber noch nicht aufgeben. Tatsächlich ist die Form „der Virus“ derzeit noch sehr viel seltener als die Form „das Virus“. Wenn Sie standhaft beim Neutrum bleiben, haben Sie also nicht nur die Sprachgeschichte auf ihrer Seite, sondern auch die Mehrheit der Sprachgemeinschaft. Und falls der Wandel sich doch noch aufhalten lässt, hätte das an unerwarteter Stelle tatsächlich einen Zugewinn an sprachlicher Präzision zur Folge: Beim „Computervirus“ ist der Wechsel vom Neutrum zum Maskulinum nämlich weitgehend abgeschlossen. Auch in formalen Zusammenhängen liest man kaum noch „das Computervirus“. Wenn das biologische Virus ein Neutrum, der digitale Virus aber ein Maskulinum wäre, würde das in manchen Zusammenhängen Missverständnisse vermeiden. „Ich habe mir einen Virus eingefangen“ würde uns zur Empfehlung einer Anti-Viren-Software anregen, „Ich habe mir ein Virus eingefangen“ zu Genesungswünschen.
Mein persönlicher Eindruck ist tatsächlich, dass die Pandemie und unser ständiges Reden über Viren eher zu einer Stärkung des Neutrums geführt haben. Es gibt also Hoffnung, wenigstens, was die Sprache betrifft. Grund zur Freude ist das für mich allerdings nicht — ich würde viel lieber in einer Welt leben, in der das Virus maskulin wäre und es die Pandemie nie gegeben hätte.