Immer an- und abmeldenWas bedeutet das Urteil zur Arbeitszeiterfassung für mich?
Frankfurt am Main – In vielen deutschen Unternehmen gibt es Vertrauensarbeitszeit: der Arbeitgeber überlässt es seinen Angestellten, die vereinbarte Arbeitszeit einzuhalten und für sich zu registrieren. Doch ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnte jetzt eine Renaissance der Stechuhr bedeuten.
Durch die Entscheidung der Richter sind die EU-Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, die Unternehmen zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigen zu verpflichten. Das könnte weitreichende Folgen haben – auch für Arbeitnehmer in Deutschland. Ein Überblick.
Wie ist die gesetzliche Lage bisher?
Ein Arbeitnehmer darf laut Arbeitszeitgesetz in der Regel nicht mehr als acht Stunden am Tag arbeiten. Ausnahmsweise darf auch bis zu zehn Stunden gearbeitet werden, wenn innerhalb der nächsten sechs Monaten durchschnittlich acht Stunden nicht überschritten werden. Zudem muss eine Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Arbeitsschichten gewahrt und nach spätestens sechs Stunden Arbeit eine Pause eingelegt werden.
Staatliche Aufsichtsbehörden wie zum Beispiel die Gewerbeaufsichtsämter überwachen, ob die Vorschriften eingehalten werden. Dokumentieren der Betrieb oder die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten aber nicht, können die Behörden wenig tun: „Arbeitgeber müssen nach dem Arbeitszeitgesetz nur Überstunden erfassen“, sagt die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht, Inken Gallner.
Was ist der Vorteil von einer Arbeitszeiterfassung?
„Die Erfassung der Arbeitszeit dient den Arbeitnehmern selbst als Beweis für ihre Leistung und den Behörden und Gewerkschaften zur Kontrolle, dass die Arbeitszeitvorschriften eingehalten werden“, sagt Gallner. Corinna Brauner von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) ergänzt: „Der Vorteil an der Erfassung ist, dass ich auch mal früher nach Hause gehen kann und keiner meiner Kollegen komisch guckt, weil sie wissen, dass ich die Zeit ein anderes Mal wieder reinarbeite.“
Die Erfassung könnte laut Brauner auch zu einem Abbau der Überstunden beitragen, weil mehr Aufmerksamkeit auf der tatsächlichen Arbeitszeit liegt. „Mit zunehmender Anzahl an Überstunden nehmen die gesundheitlichen Beschwerden zu. Die Betroffenen klagen häufig über Rückenschmerzen und Müdigkeit, das allgemeine Gesundheitsgefühl sinkt und die Work-Life-Balance leidet“, sagt die BAuA-Forscherin.
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Wo wird die Arbeitszeit bereits erfasst?
Die BAuA hat zuletzt 2015 die Beschäftigten zu dem Thema befragt. „Dabei gab etwa die Hälfte an, dass die Arbeitszeit betrieblich erfasst wird. Etwa ein Drittel erfasste sie selbst und ein Fünftel gar nicht“, sagt Brauner. Am weitesten verbreitet ist die betriebliche Erfassung in der Industrie und im öffentlichen Dienst. Die eigenständige Dokumentation der Arbeitszeiten durch die Beschäftigten ist im Handwerk das häufigste Mittel.
Je größer der Betrieb, desto üblicher sind betriebliche Erfassung und Arbeitszeitkonten, über die Überstunden verwaltet werden. Am seltensten wird die Arbeitszeit bei Beschäftigten im Bereich Unterricht und Erziehung erfasst. „Das liegt unter anderem daran, dass Lehrer viel zuhause arbeiten“, sagt Brauner. Außerdem ist in vielen Unternehmen die sogenannte Vertrauensarbeitszeit gängige Praxis, bei der sich die Beschäftigten die Arbeitszeit selbst einteilen können.
Welche Auswirkungen hat das Urteil?
„Vertrauensarbeitszeit und nicht im Einzelnen erfasste Überstunden wird es in der bisherigen Form nicht mehr geben können“, erklärt Michael Fuhlrott, Arbeitsrechtler an der Hochschule Fresenius. Nach dem Urteil müssten auch diese erfasst werden. „Die EU-Mitgliedstaaten müssen Arbeitgeber verpflichten, Arbeitszeiterfassungssysteme einzuführen“, betont Richterin Gallner.
Der EuGH lasse den Mitgliedstaaten aber Spielräume dafür, welche Zeiterfassungsmethoden sie den Arbeitgebern vorgeben. „Je nach Art des Unternehmens können die Arbeitszeiten zum Beispiel auf dem Papier oder elektronisch erfasst werden. Die Zeiterfassung muss nur objektiv und verlässlich sein.“
Was bedeutet das für den Arbeitsalltag?
„Der EuGH ist sehr klar, wenn es darum geht, die Ruhezeiten einzuhalten“, sagt Gallner. „Aus meiner Sicht können schon kurze Arbeiten die Ruhezeit unterbrechen, beispielsweise eine berufliche E-Mail oder ein berufliches Telefongespräch. Nach meiner Auffassung müssen Arbeitgeber unterbinden oder verbieten, dass Arbeitnehmer in der Ruhezeit etwa berufliche Telefonate führen oder E-Mails beantworten. Sonst beginnt die vollständige Ruhezeit erneut.“
Diese Sichtweise ist aber nicht unumstritten, wie Gallner selbst zugibt. Nach Ansicht von BAuA-Forscherin Brauner trägt jeder Arbeitnehmer selbst Verantwortung für die Einhaltung seiner Rechte: „Wichtig ist, dass es alle mittragen. Wenn manche das Gefühl habe, dass sie in ihrem Betrieb nur durch Extraarbeit vorankommen, stempeln sie sich vielleicht selbst aus und arbeiten einfach weiter. Auch wenn die Arbeit in der Arbeitszeit generell nicht zu schaffen ist, ist das problematisch. Die Arbeitszeiterfassung ist auch kein Allheilmittel.“(afp)