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Gehirnforscherin warntDigitale Medien am Arbeitsplatz machen uns abhängig und dumm

Lesezeit 7 Minuten
Multitasking

Smartphone, Tablet und PC sind allgegenwärtig. Doch unser Gedächtnis und unsere Kreativität verarmen durch den exzessiven Gebrauch digitaler Medien, warnen Hirnexperten.

Die emeritierte Neurobiologin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt erklärt im Interview, wie digitale Medien am Arbeitsplatz unser Gehirn angreifen.

Digitale Medien sind aus Unternehmen nicht mehr wegzudenken. Sie sehen aber Gefahren für unser Gehirn. Warum?

Gertraud Teuchert-Noodt: Die größte Gefahr digitaler Medien ist es, dass unser Gehirn aus dem eigenen Rhythmus gebracht wird, und zwar auf der Ebene unbewusster Vorgänge, wie sie im limbischen System ablaufen. Denn unser Denkapparat kann durch Reizüberflutung und ständige Erreichbarkeit massiv überfordert sein, wenn es um die Wahrnehmung und Verarbeitung der vielfältigen Signale geht, die aus der realen und virtuellen Welt auf uns einprasseln.

Dabei wird die für das Denken wichtige Verrechnung von Raum und Zeit zu sehr strapaziert, wenn ich zum Beispiel unter starkem Zeitdruck arbeite und Multitasking betreibe. Die Raum-Zeit-Verrechnung stellt eine der höchsten Funktionen in unserem Gehirn dar, weil sie die Voraussetzung für alle kognitiven Leistungen ist. Sie lassen sich nur realisieren, wenn wir uns gut in Raum und Zeit orientieren.

Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt

Expertin fürs Gehirn

Neurologin

Die Gehirnforscherin leitete den Bereich Neuroanatomie/Humanbiologie an der Universität Bielefeld, Fakultät für Biologie. Spezielle Forschungsgebiete: unter anderem quantitative Immunhistochemie von Neurotransmittern und neuronale Netzwerke in der Entwicklung psycho-kognitiver Hirnfunktionen. In ihren Vorträgen setzt sie sich kritisch mit der Wirkung digitaler Medien auf das Gehirn auseinander, so auch bei einer Veranstaltung des Netzwerks culture2business im Juni 2016. Titel des Vortrags: „Cyberangriff auf unser Gehirn? Strategien für einen gesunden Umgang mit digitalen Medien in Unternehmen.“

Wie verlieren wir diese Orientierung?

Sie kann durch digitale Medien durcheinandergeraten, wie wir es bei deren Wirkung auf den Hippocampus sehen können. Er ist ein wesentlicher Teil des limbischen Systems und lässt sich eine Weile stark beanspruchen. Dabei ist der Hippocampus mit einem sich selbstverstärkenden Schaltkreis verbunden, dem so genannten Belohnungssystem, gesteuert durch Opioide. Das sind hirneigene suchtauslösende Substanzen, die automatisch durch digitale Medien aktiviert werden. Durch diesen Prozess kann Suchtverhalten entstehen, weil das zugehörige Belohnungssystem überdreht. Eine Folge des dauerhaften Reizbombardements, das von einer sehr starken Benutzung digitaler Medien ausgeht.

Das schadet heute den Menschen erheblich, denn dann leben sie in einem Nebel euphorisierender Neurotransmitter. Nur sind sie nicht mehr in der Lage, über ihre Situation nachzudenken. Sie leben im Zustand einer wachsenden Abhängigkeit.

Dann hängen die Betroffenen ständig am Smartphone und sind immer online. 500.000 Menschen gelten in Deutschland als internetsüchtig.

Ja, das ist sehr schlimm, weil genau diese Verhaltensweisen zu einem Rückgang kognitiver Fähigkeiten führen, die wir eigentlich pflegen sollten. Das betrifft unmittelbar die Raum-Zeit-Verrechnung, die in einer übergeordneten Instanz – dem Stirnhirn – durchgeführt wird. Sie trennt „Jetzt“-Erfahrungen aus der Gegenwart von künftigen oder vergangenen Erfahrungen.

Dabei entstehen auch Gedächtnisspuren, die sich dem Gehirn einschreiben. Das läuft über diese raumzeitliche Schiene. Wenn diese Funktion gestört ist, kann ich vielleicht Daten in einer „Cloud“ auf Servern speichern, aber nicht mehr im eigenen Gehirn. Mein Gedächtnis verarmt.

Diese kognitive „Entleerung“ bedeutet darüber hinaus, dass ich nicht mehr kritisch denken kann. Ich bin kaum mehr in der Lage, kreative Gedanken zu formulieren. Planung und Antizipation fallen mir schwer, weil sie an die Fähigkeit der Raum-Zeit-Verrechnung gebunden sind. Es ist gerade eine der wichtigsten Leistungen unseres Gehirns, Situationen vorwegnehmen und planen zu können.

So schädlich ist Multitasking für unser Gehirn

Mann mit Smartphone vor PC

„Die Medien holen uns aus der realen Welt heraus, hinein in eine virtuelle Welt. Dafür wurde das Gehirn ursprünglich nicht gebaut.“

Ist die Ursache dafür wirklich das permanente Multitasking, wie es moderne Arbeitsplätze am PC erfordern?

Ja, genau diese Situation kann zu einem Überdrehen des limbischen Systems führen, wobei die übergeordnete Kontrolle durch das Stirnhirn zurückgeht. Eigentlich hätte das Stirnhirn mit seinen exekutiven Funktionen die Aufgabe, Impulse aus dem limbischen System in gesunde Bahnen zu lenken. Diese Impulse haben jetzt aber freie Bahn, zum Schaden der Betroffenen.

Was lösen diese Impulse aus?

Wenn das Stirnhirn nicht mehr beteiligt ist, verlieren Menschen die Kontrolle über ihr Verhalten und das im Unterbewusstsein arbeitende limbische System. Dabei ist es auch möglich, dass die Kontrolle über Schaltkreise abhanden kommt, die Ängste auslösen. Die Folge können panische Angst oder chronische Angsterkrankungen sein. Ebenfalls kann die Kontrolle über vegetative Funktionen verloren gehen. Dann erkrankte das Gehirn an Magersucht. Konzentrationsschwächen können eine weitere Konsequenz sein; Denken und Gedächtnis leiden erheblich.

Trotzdem fühlen sich betroffene Menschen scheinbar wohl?

Eine Weile erleben sie diesen Zustand als angenehmen, aber dann kommen sie schnell in Bedrängnis. Der Grund: Mit Hilfe des Stirnhirns sind wir schon in der Lage, darüber nachzudenken, was wir da mit uns machen lassen. Wir spüren die Überforderung. Wenn wir aber bereits in die Abhängigkeit geraten sind und suchtartig nach immer neuen medialen Reizen verlangen, kommen wir davon nicht mehr los. Das ist auch bei einer Drogensucht mit berauschenden Substanzen der Fall. Es entsteht ein hoher Leidensdruck.

Da stellen sich auch Entzugserscheinungen ein?

Wenn Sie Kindern das Smartphone wegnehmen, und die prügeln darauf aggressiv auf ihre Eltern ein – dann ist das ein typisches Zeichen für Entzugserscheinungen. Das Kind erlebt einen kalten Entzug.

Sie sehen die Nutzung dieser Medien auch bei Kindern kritisch?

Den Kleinen fällt es viel schwerer als Erwachsenen, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Wir können uns bewusst an die Kandare nehmen, um Exit-Strategien zu finden. Bleiben aber Kinder in der digitalen Sucht gefangen, reifen viele ihrer Gehirnfunktionen nicht mehr richtig. Sie lernen einfach nicht, gerade zu denken. Unser Gehirn ist nämlich erst ab einem Alter von ca. 18 Jahren völlig entwickelt, und das kontrollierende Stirnhirn braucht bis dahin viel Zeit, um ganz auszureifen.

Netzwerk „culture²business“

Über das Netzwerk

Das Netzwerk culture²business setzt sich zum Ziel, gesellschaftlichen Wandel zu erkennen und in die Wirtschaft zu tragen. Die Partnerinnen und Partner wollen einen Wechsel gestalten, der zu einer zukunftsfähigen Kultur in Unternehmen führt. Die Stichworte lauten: Mehr Kooperation und weniger Konkurrenz. Mehr Gemeinwohl und weniger Egoismus. Mehr Wertschätzung und weniger Profitorientierung. Das Netzwerk unterstützt Unternehmen, die eine ganzheitlich-zukunftsorientierte Kultur aufbauen wollen, um im Wettbewerb durch engagierte Mitarbeiter zu bestehen.

Beratung und Information

Vereint wird Kompetenz aus unterschiedlichen Gebieten: Die Partnerinnen und Partner sind Unternehmensberater, Systemische Coaches, Trainer, Wissenschaftler, ein Journalist, ein IT-Spezialist und ein Experte für Bildung im Internet. Das Netzwerk wurde inzwischen als „Fachgruppe Unternehmenskultur und Kommunikation“ in die „Offensive Mittelstand“ aufgenommen, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert wird. Das Netzwerk entwickelt für Unternehmen ein fundiertes Beratungs- und Informationsangebot: Analysen, Beratungen, Webinare, Vorträge und Trainings.

Vor diesem Hintergrund lautet Ihre These: Die Medienindustrie zerstört auf diese Weise genau die Fähigkeiten, die ihre Mitarbeiter eigentlich brauchen. Wie meinen Sie das?

Die Wirtschaft erwartet durch den effizienten Einsatz digitaler Medien, dass wir im Rahmen der wichtigen Raum-Zeit-Verrechnung extrem beschleunigt arbeiten. Doch diese Medien holen uns aus der realen Welt heraus, hinein in eine virtuelle Welt. Dafür wurde das Gehirn ursprünglich nicht gebaut. Die hohe Arbeitsverdichtung, das Multitasking und die ständige Erreichbarkeit tragen ihren Teil dazu bei, sobald digitale Medien das Arbeitsleben durchdringen – und es keine Ruheräume zur Kompensation mehr gibt.

Wie schützt man sich vor den Folgen der Digitalisierung?

Multitasking

Smartphone, Tablet und PC sind allgegenwärtig. Doch unser Gedächtnis und unsere Kreativität verarmen durch den exzessiven Gebrauch digitaler Medien, warnen Hirnexperten.

Die Digitalisierung der Unternehmen ist nicht aufzuhalten. Wie kann sich da einzelner Mitarbeiter schützen?

Er kann nur versuchen, nicht alles mitzumachen. Das ist tragisch.

Dann ist er bald seine Arbeit los…

Sicher, bisher geschieht so etwas schnell. Aber ich halte diese permanente Überforderung für dramatisch. Ich sehe immer die Kassiererinnen vor mir, die unter Druck die gekaufte Ware einscannen. Ich sage dann immer: „Jetzt machen Sie doch mal ein bisschen langsamer.“ Doch der Frau sitzt ihr Chef im Nacken, sie kann nicht langsamer arbeiten. So wird ihr die Menschenwürde streitig gemacht, weil viele Kunden ungeduldig an der Kasse drängeln. Und diese Mischung aus Druck, Arbeitsverdichtung und digitalen Medien treibt inzwischen viele Menschen an den Rand der Belastbarkeit. Da stoßen wir an objektive Grenzen der Natur des Menschen, deren möglicher Zusammenbruch nichts mit persönlichen Versagen zu tun hat.

Wir müssen also darüber nachdenken, wie sich Arbeit entschleunigen lässt. Wahrscheinlich brauchen wir ein neues digitales Arbeitsschutzrecht, damit die Digitalisierung der Wirtschaft nicht die Menschenwürde in Frage stellt.

Wie könnten Regeln in diesem neuen Arbeitsschutzrecht aussehen?

Wir brauchen zeitliche Beschränkungen bei diesen Tätigkeiten. Außerdem sollte die Beschleunigung der Arbeit begrenzt werden. Generell müssen wir uns Gedanken machen über das biologisch verträgliche Belastungsniveau, das unser Gehirn aushält. Daher sollten Mitarbeiter überall die Erlaubnis haben, ab einer bestimmten Stunde am Abend und am Wochenende das Smartphone auszuschalten. Das wären mögliche Regeln, die es bei einigen Unternehmen wie VW schon gibt.

Grundlage sollte eine umfassende Medienethik sein, die den Menschen in seiner biologischen Verletzbarkeit in den Mittelpunkt rückt – und nicht eine Technologie, die aus kommerziellen Gründen ohne Bedenken vorangetrieben wird. Im Moment erscheint mir die globale Ausbreitung digitaler Medien wie ein Tierversuch an Menschen, den keine Ethikkommission kontrolliert.

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