MobilitätVerkehrsplanung ist auf Männer ausgerichtet – mit Folgen für alle anderen
Köln – Da gibt kein Vertun: Noch immer sind es hauptsächlich Männer, die ganz vorne mitmischen, auf Management-Ebenen, Gehalt-Rankings oder Gewalt-Statistiken. Dass sie aber auch die Verkehrsplanung dominieren, ist noch nicht weit ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen. Männer gestalten Crash-Test-Dummys nach ihrem Ebenbild, so dass Frauen bei Auto-Unfällen häufiger stark verletzt werden. Männer kreieren ÖPNV-Pläne entsprechend ihrer Fahrgewohnheiten, nämlich von Zuhause zum Job. Und Männer machen mit 78 Prozent die überwiegende Mehrheit an Arbeitskräften in der europäischen Mobilitätsbranche aus.
„Dass im Verkehrssektor die Mehrheit der Planer und Entscheider männlich ist, hat zur Folge, dass sich Verkehrssysteme und Mobilitätslösungen an den Bedürfnissen des Durchschnittsmannes orientieren“, sagt Mobilitätsexpertin Ines Kawgan-Kagan und räumt ein Klischee aus dem Weg: „Wenn wir uns für eine weibliche Sicht auf die Mobilitätswende stark machen, bedeutet das ja nicht, dass wir nur die weiblichen Bedürfnisse in den Fokus rücken, sondern die aller von der Verkehrs- und Städteplanung übersehenen Personengruppen: jung und alt, Menschen mit Behinderung, unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft.“
Mobilität ist stark von der männlichen Sichtweise geprägt
Dass Mobilität nicht gender-neutral und divers, also vielfältig, sondern stark von der männlichen Sichtweise geprägt und mit systemischen Benachteiligungen verbunden ist, „liegt auch an gesellschaftlichen Stereotypen und Rollenzuschreibungen. Sich diese bewusst zu machen, ist der erste Schritt“, sagt Verena Ott, zuständig für Diversität und Antidiskriminierung bei der Kommunikationsberatung Lots*, die Unternehmen und Kommunen auch in Fragen der Gender- und Diversity-Gerechtigkeit begleitet. „Ein zweiter Schritt wäre eine Verkehrsplanung, die auf korrekt erhobenen Daten basiert. Viele sind längst bekannt, werden aber bei der Umsetzung nicht genügend beachtet“, ergänzt Kawgan-Kagan.
Zum Beispiel diese: Morgens die Kinder mit dem Rad zur Kita fahren, weiter mit der Bahn ins Büro, später mit dem Auto zum Supermarkt, zum Kinderarzt, Klavierunterricht, noch schnell die Großmutter zu Fuß im Pflegeheim besuchen, abends das Teenager-Kind zur Party bringen. „Frauen, die noch immer hauptsächlich für die Care-Arbeit zuständig sind, legen viel kürzere aber mehr Wege zurück, die seltener als bei Männern direkt zu einem Ziel, nämlich zum Job, führen“, sagt Kawgan-Kagan.
Studien bestätigen: Im Schnitt fahren Männer doppelt so weit wie Frauen,. Ihre Wege für Einkäufe, Begleitungen von Personen und andere Erledigungen nehmen aber weniger als ein Drittel der täglichen Strecken ein. Frauen haben also höhere und flexiblere Anforderungen an die Mobilität, müssen ihre Wege und Aufgaben effizient und zeitsparend verketten und dabei pünktlich von A nach B, C und D kommen. Trotzdem sind knapp 70 Prozent der deutschen Autos auf Männer zugelassen. Wenn es nur einen Wagen in der Familie gibt, wird er meist vom Mann genutzt. Dagegen sind 62 Prozent der ÖPNV-Nutzenden Frauen, weltweit sogar 66 Prozent. Kawgan-Kagan: „Dabei wäre für die meisten Männer der einzige tägliche Weg zur Arbeit viel einfacher mit dem ÖPNV zu meistern.“
Auch neue Angebote wie Car-Sharing, Radverleih oder E-Scooter kämen für viele Frauen nicht in Frage, da man nicht damit rechnen kann, dass zur richtigen Zeit ein Auto am richtigen Ort steht. Nur 18,75 Prozent der Carsharing-Nutzenden sind Frauen. „Auch weil Carsharing sehr auf Technik fokussiert ist, die meisten Modelle mit neuester High-Tech ausgestattet sind und damit einer bezahlten Probefahrt der Automobilhersteller für die männliche Kundschaft gleichkommen“, sagt Kawgan-Kagan und zieht ein Fazit: „Frauen, Rentner und alle, die Care-Arbeit leisten, sind viel stärker auf engmaschige, gut ausgebaute und sichere Fuß- und Radwege im näheren Wohnumfeld angewiesen, als Männer, die für ihre Arbeitswege die Hauptstraßen nutzen. Wir müssen weg von der Autozentriertheit im öffentlichen Raum und von ÖPNV-Projekten, die sich rein auf Arbeitswege beziehen und linear ausgerichtet sind.“
Crash-Test-Dummys sind an Männern orientiert
Längst ist bekannt, was eine britische Studie jetzt ergeben hat: Obwohl Männer statistisch eher in schwere Unfälle verwickelt sind, werden nur neun Prozent in ein Auto eingeklemmt, Frauen dagegen zu 16 Prozent. Schuld daran sei ein an Männern orientiertes Fahrzeugdesign und Crash-Test-Puppen, die der Physiognomie eines Durchschnittsmannes nachempfunden sind. Entsprechen sie doch einmal den weiblichen Attributen, werden sie bei Sicherheitstests auf der Beifahrerseite platziert. Für Frauen, Kinder und alte Menschen kann das lebensgefährlich werden.
(Miet-)Autos, Bus- und Bahntickets müssen finanziert sein. Doch das Geld ist ungleich verteilt – auch zwischen den Geschlechtern. Frauen arbeiten viel häufiger in Teilzeit, um sich nebenbei um die Care-Arbeit kümmern zu können. Haben dadurch per se ein geringeres Einkommen. Alleinerziehende, Frauen über 65 und Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders armutsgefährdet, haben oft kein Geld für Führerschein, ÖPNV-Ticket, geschweige denn ein Auto. Vor allem ältere Frauen legen ihre Wege zum Großteil zu Fuß zurück, nur 41 Prozent der Über-65-jährigen Frauen, aber 87 Prozent der Männer haben eine Fahrerlaubnis. Gleichzeitig ist jede fünfte Person zwischen 60 und 70 Jahren in ihrer Mobilität eingeschränkt – und auf den ÖPNV angewiesen. Doch viele Stationen und Fahrzeuge sind nicht barrierefrei, was in gleichem Maße auch Menschen betrifft, die auf einen Rollstuhl angewiesen oder mit einem Kinderwagen unterwegs sind.
Sicherheit aller muss Bestandteil von Verkehrsplanung sein
Migrantinnen und Migranten und Menschen, die hier geboren sind, aber einen anderen ethnischen Hintergrund haben, erleben Rassismus und Diskriminierung im öffentlichen Raum, jede dritte Frau auf deutschen Straßen sexuelle Belästigungen. Auch lesbische, schwule, bisexuelle oder Trans-Menschen und Menschen mit Behinderungen müssen auf ihren Alltagswegen mit Übergriffen rechnen. Das hat auch Einfluss auf die Wahl des Verkehrsmittels und ihrer Route. Um sich zu schützen, fahren sie eher mit Bussen, weil sich deren Haltestellen in der Nähe ihres Zuhauses befinden, halten sich von U-Bahn-Stationen und Bahnhöfen fern oder meiden es, im Dunkeln zu Fuß zu gehen. Ott: „Wir wollen keine Menschen in eine Opferrolle bringen, aber die Sicherheit dieser Personengruppen muss ein integraler Bestandteil von Verkehrsplanung sein. Sich in der Mobilität einzuschränken zu müssen, bedeutet auch, an gleichberechtigter sozialer Teilhabe, einem Grundrecht, behindert zu sein und ist damit ein gesellschaftliches Problem.“
Fazit: Mehr Vielfalt in der Städte- und Verkehrsplanung
Verkehrsplanung beeinflusst die Lebensqualität, die Sicherheit und das Wohlergehen aller, trägt zu sozialer Gerechtigkeit bei. Da man die Realitäten und Bedürfnisse vieler Menschen aber bislang übersehen hat, wurden Städte und Verkehr sternförmig geplant, also so, dass der berufstätige Familienvater morgens kommod zur Arbeit und abends wieder zurück fahren kann. Paris und Barcelona kehren diese linearen Sichtweise mit ihren Konzepten der 15-Minuten-City oder der Superblocks um. Dabei werden eine bestimmte Anzahl von Häuserblöcken samt Infrastruktur so vereint, dass Anwohner und Lieferanten in einen Superblock hineinfahren können, der übrige Verkehr auf größeren Straßen herum geleitet wird, dafür Rad- und Fußwege ausgebaut werden.
„Auch ein gut ausgebauter, vernetzter und vor allem leistbarer ÖPNV, mit flexiblen Angeboten für unterschiedlichen Zielgruppen, wie Ticketpreise, die für einen Zeitraum gelten und nicht nur für eine Richtung, Sozialtickets, barrierefreie Haltestellen und Fahrzeuge, sichere, beleuchtete und mit Notrufsäulen ausgestattete Rad- und Fußwege dagegen würden dafür sorgen, dass alle Menschen einen sicheren Zugang zu Mobilität haben“, sagt Verena Ott.
Würden obendrein Carsharing, Radverleih oder E-Scooter mit dem motorisierten Individualverkehr verschmelzen, die Lobbygruppen nicht nur für sich, sondern miteinander denken, bezöge man die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Mobilität mit ein, „könnten wir eine wirklich gleichberechtigte, nachhaltige, inklusive, sprich: lebenswerte Verkehrspolitik gestalten", sagt Kawgan-Kagan.