Von Wohlfühlen bis UnbehagenHistorikerin erforscht, wie Orte auf uns wirken
Ein ungutes Gefühl beim Betreten einer Wohnung oder das Grummeln im Bauch, das sich bei einem Besichtigungstermin meldet, kennen wahrscheinlich viele Menschen, die auf der Suche nach einem neuen Zuhause sind. Die Historikerin Dr. Roberta Rio beschäftigt sich beruflich damit, wie Orte auf uns wirken. Im Interview verrät sie, warum ein Blick in die Geschichte lohnend ist und warum sie selbst zum Beispiel nie in einem umgebauten Bunker wohnen möchte.Ihr Buch heißt „Der Topophilia-Effekt“. Können Sie kurz erklären, was das bedeutet?Roberta Rio: Topophilia ist ein griechisches Wort und bedeutet Liebe zu Orten. Dieser Begriff wurde verwendet, um die emotionale Bindung zwischen Menschen und Plätzen, Häusern, Dörfern, Städten auszudrücken. Für mich ist es ein Sammelbegriff dafür, wie Orte sich auf uns auswirken können, auf unsere Gesundheit, auf unsere Beziehungen und sogar auf unseren beruflichen Erfolg.
Sie recherchieren die Vergangenheit von Orten und entwickeln daraus statistisches Datenmaterial. Wie kann ich mir Ihre Arbeit vorstellen?
Kunden, das können Privatpersonen oder Unternehmen sein, bitten mich um Hilfe. Zuerst schaue ich mir den Ort zusammen mit ihnen an. Um nicht von dem Besitzer beeinflusst zu werden, mache ich auch noch alleine einen Rundgang. Ein Schlüssel meiner Arbeit sind die Gespräche mit den Menschen in dem Dorf, der Straße oder der Stadt, in der sich das Gebäude befindet. Es ist für meine Arbeit wichtig, auch die Umgebung zu erkunden, zu wissen, was es für ein Ort ist, was dort in der Nähe ist.
Danach beginnt die Recherche in Stadt-, Gemeinde und Kirchenarchiven nach Mustern. Muster, die sich im Laufe von Jahrzehnten – manchmal von Jahrhunderten – an diesem Platz wiederholt haben. An manchen Orten kam es immer wieder zu Krankheiten, in einem anderen Haus haben immer Menschen gewohnt, die in ökonomische Schwierigkeiten geraten sind. Ich sammle statistische Daten und übermittle sie an meine Kunden. Sie alleine können dann entscheiden, welche Schlüsse sie aus den Fakten ziehen. Manche Kunden fragen mich nach dem Kauf auch, welches Projekt erfolgreich sein könnte – wie ein Paar aus England, das eine ehemalige Kirche gekauft hatte. In der Eucharistie kommen Menschen zu Brot und Wein zusammen. Die Mönche, die einst dort gelebt hatten, haben auch selbst Brot gebacken. Also schlug ich ihnen vor, ein Restaurant aufzumachen. Ihr Restaurant ist noch immer ein Erfolg!
Was nutzt uns das Wissen um die Historie von Orten?
Die Geschichte können wir nutzen, um unser Leben zu verbessern. Orte können uns auf unterschiedlichen Ebenen beeinflussen – Beziehungen, Gesundheit oder auch den beruflichen Erfolg. Das sage ich aus der Perspektive der Geschichte und der Statistik. Lassen sich bei dem neu gekauften Haus Muster erkennen, können wir dieses Wissen nutzen.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass unsere Vorfahren genau das gemacht haben. Viele Völker haben geprüft, ob sie sich an einem Fleck niederlassen sollten oder nicht. Dieses Wissen sei durch die Rationalität verloren gegangen. Können Sie erklären, was Sie damit meinen? Wie nutzen Sie solche volkstümlichen Weisheiten für Ihre Arbeit?
Unsere Vorfahren haben immer bewusst Land besiedelt. Sie haben unter anderem Flora und Fauna beobachtet und ihre Erkenntnisse in die Bebauungsstrategie einfließen lassen. Die Etrusker beispielsweise haben zunächst ihre Schafe an einem neuen Platz weiden lassen und dann einige geschlachtet. Sie haben ihre Leber untersucht. War das Organ gesund, war es für sie ein Zeichen, dass der Ort gut zum Leben war und sie haben eine neue Stadt gegründet oder neue Gebäude gebaut. Noch heute gibt es Volkswissen, beispielsweise über Bäume und Tiere. Dieses Wissen wird oft als Aberglaube bezeichnet. Doch meiner Meinung nach fehlt uns Demut vor dem Alten und dem Volkswissen. Unsere Vorfahren konnten viele Dinge, die wir aus der Perspektive der aktuellen Wissenschaft noch nicht messbar gemacht haben, aber sie haben etwas gespürt und danach agiert.
Zum Weiterlesen
Dr. Roberta Rio: „Der Topophilia Effekt. Wie Orte auf uns wirken”, Edition a, 272 Seiten, 22 Euro.
Foto: Edition a
Würde sich die aktuelle Naturwissenschaft gezielt mit solchem Volkswissen beschäftigen, könnten neue Erkenntnisse gewonnen werden. Zum Beispiel Radon, ein radioaktives Element, von dem wir wissen, dass es Lungenkrebs verursachen kann, wenn es von Menschen in großer Menge eingeatmet wird. Die Gefährlichkeit ist belegt und auch die Konzentration ist messbar. Doch unsere Vorfahren haben Radon immer wahrgenommen – ohne Messinstrumente. Sie haben den Stoff oft mit dem Namen einer Gottheit benanntt. Ich wünsche mir deshalb, dass Historiker und Naturwissenschaftler stärker zusammenarbeiten und wir in alten Texten neue Perspektiven finden, Erkenntnisse gewinnen, die für die Herausforderungen unserer Zeit nützlich sein könnten.
Was sollten wir uns von unseren Ahnen abschauen? Wie sollten wir Städte und Bebauungen planen?
Ich würde immer tief in der Geschichte zurückschauen, um zu erfahren, was dort geschehen ist. Ich erinnere mich an eine Frau, die mich anrief, weil sie sich nach einem Umzug in ein Haus plötzlich mit ihrem Mann viel mehr stritt. Als ich die Geschichte dieses Hauses recherchiert habe, habe ich herausgefunden, dass sich die letzten drei Generationen der Besitzer scheiden lassen haben. Als ich noch tiefer in der Geschichte gegraben habe, erfuhr ich, dass das Gebäude früher als Gericht genutzt wurde. Streiten war also immer ein Thema. Warum sich dieses Muster an diesem Ort wiederholt, lässt sich mit dem historischen Wissen nicht erklären. Hier müssten naturwissenschaftliche Untersuchungen ansetzen. Wir sollten also wissen, wie unsere Vorfahren ein Gebäude genutzt haben, denn sie haben diesen Ort mit Bedacht gewählt – mit einer Intuition, die wir heute immer noch haben, auf die wir aber viel zu selten hören.
Wie ist es zum Beispiel mit Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg? Ist es eine gute Nutzung, sie zu Wohnungen umzubauen? Oder ist es ein schlechter Platz dafür?
Wir müssen erst herausfinden was war, welchem Zweck das Grundstück gedient hat, bevor der Bunker erbaut wurde. Jeder Ort ermöglicht uns eine Erfahrung: Von welchen Orten Menschen angezogen sind, ist immer unterschiedlich. Jeder muss letztendlich selbst entscheiden, ob er sich dort wohlfühlen kann. Wichtig ist es nur, die Geschichte zu kennen und nicht blind in eine solche ehemalige Bunkeranlage zu ziehen. Ich persönlich würde nicht in einem ehemaligen Bunker wohnen wollen – das ist aber mein persönliches Empfinden.
Wie finde ich heraus, ob dort für mich ein guter Platz zum Wohnen wäre?
Bei der ersten Besichtigung sollte man dem ersten Eindruck vertrauen. Wir spüren in diesen wenigen Sekunden sofort, ob wir uns in dieser Wohnung wohlfühlen können oder nicht. Man spürt, ob die Chemie stimmt. Wenn wir uns nicht wohlfühlen oder etwas nicht stimmt, atmen wir nicht mehr frei. Das ist ein Zeichen von Stress. Es ist wichtig zu schauen, welche Menschen in dieser Umgebung wohnen. Sind es glückliche und gesunde Leute? Sind sie erfolgreich? Sind es Einzelgänger? Sind es Paare? Welche Gebäude sind in der direkten Nachbarschaft und welchen Zwecken dienen sie? Wer eine neue Wohnung oder ein Haus kaufen möchte, sollte auch den Blick zurück suchen und wissen, was vorher dort war, mit älteren Menschen sprechen und in Archiven recherchieren.
Gibt es schlechte und gute Orte?
Ein Platz ist nicht per se gut oder schlecht. Wir können einen Ort nur gut oder schlecht nutzen. Heute werden zum Beispiel Häuser auf ehemaligen Friedhöfen gebaut. Das halte ich für eine ungünstige Nutzung. Unsere Vorfahren haben die Grundstücke dafür immer bewusst gewählt. Es sind keine Orte für ein gesundes und glückliches Leben. Solche Orte sind für andere Zwecke geeignet. Statt Wohnungen könnte dort eine Mülldeponie ihren Platz finden. Wir sollten auch untersuchen, warum unsere Vorfahren diesen Ort für einen Friedhof gewählt haben – möglicherweise eignet sich die Zusammensetzung der Erde dort besonders zum Abbau und für Zerfallsprozesse, aber nicht für das Leben.
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Sie erzählen in Ihrem Buch von einem Haus in Italien, vor dessen Garten immer wieder Unfälle passieren. Sie fanden heraus, dass dort mal ein Bildstock stand – etwas, das die Römer nutzten, um schlechte Energien umzuleiten. Nachdem das dort lebende Ehepaar den Bildstock ersetzt hat, hörten die gehäuften Unfälle auf. Steckt in Ihrer Arbeit also ein Stück Esoterik?
Ich bin Historikerin: Ich beschäftige mich nur mit Geschichte und Statistiken. Wenn ich sehe, dass in der Vergangenheit auf einem Platz ein Stein war, der jetzt nicht da ist und etwas nicht mehr stimmt oder nicht läuft, denke ich systemisch. Nehme ich etwas weg, muss sich das ganze System darauf einstellen – wie auch an diesem Ort. Bei diesem Fall war es Intuition. Warum es funktioniert hat, kann ich nicht sagen: Da brauchen wir Naturwissenschaftler. Jeder Ort hat seine eigene Persönlichkeit, seinen eigenen Geist: den sogenannten Spiritus Loci. Unsere Vorfahren haben solche Worte benutzt, die heute leicht als esoterisch gewertet werden, weil wir uns anders ausdrücken. Sicher ist, dass Orte uns und unsere Leben beeinflussen.
Frau Rio, vielen Dank für das Gespräch.