Edda Schneider-Ratz ist Anwältin für Strafrecht und Familienrecht in Köln. Petra Ladenburger ist unter anderem spezialisiert auf Familienrecht und arbeitet ebenfalls als Anwältin in Köln. Beide haben häufig mit Vergewaltigungsopfern zu tun – und wissen, wie schwierig es für Opfer sein kann, sexuelle Gewalt zu beweisen.
Frau Ladenburger, Frau Schneider-Ratz, Statistiken zufolge werden mehr Vergewaltigungen angezeigt – erleben Sie das auch so?
Edda Schneider-Ratz: Insbesondere seit das Gewaltschutzgesetz gegriffen hat, werden vor allem Gewalttaten mit sexuellen Übergriffen in Beziehungen häufiger angezeigt. Da wissen sich Frauen jetzt eher zu wehren und werden von den Polizeibeamten, die vor Ort erscheinen, besser aufgeklärt.
Petra Ladenburger: Ich würde sagen, dass die Zahl der Beratungen, die ich in dem Bereich führe, zugenommen hat, aber nicht die Zahl der Anzeigen. Vielfach überlege ich gemeinsam mit den Frauen, ob sie Anzeige erstatten sollten. Und ich merke, dass die Zahl der Fälle zunimmt, in denen ich zu bedenken gebe, ob eine Anzeigenerstattung Sinn macht.
Weil die Anzeige nicht zu einer Verurteilung führen würde?
Ladenburger: Genau. Ich erkläre, was in einem Strafverfahren auf Betroffene zukommen kann – das kann ja durchaus belastend sein – und stelle dem gegenüber, was für Erfolgsaussichten ich dem Verfahren einräume.
Schneider-Ratz: Bei Sexualdelikten haben wir häufig das Problem, dass sich die Geschädigten mit zeitlicher Verzögerung an Polizei oder Anwälte wenden, weil diese Delikte schambesetzt sind. Wenn so aber ein, zwei Wochen vergehen, ist das, was an Beweismitteln – DNA-Spuren am Körper, an der Kleidung oder Ähnliches – vernichtet worden ist, nicht wieder gutzumachen. Dann stellt sich schon die Frage, ob man noch zu einer Anzeige raten kann. Ich persönlich halte es aber für wichtig, Öffentlichkeit herzustellen über Sexualdelikte. Eine Anzeige gibt der Frau die Möglichkeit, den Täter zu stigmatisieren, zu erzählen, was ihr passiert ist.
Eine Vergewaltigung ist im Paragraf 177 des Strafgesetzbuches definiert als Nötigung einer Person gegen ihren Willen – unter Anwendung von Gewalt, durch Drohungen gegen Leib und Leben oder unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage – zum Beischlaf oder zu besonders erniedrigenden sexuellen Handlungen.
Als sexuelle Nötigung zählen Taten, in denen eine Person mit den gleichen Mitteln zu einfachen sexuellen Handlungen gezwungen wird.
Als sexuelle Beleidigung können Taten wie das Anfassen der Brust oder das Onanieren auf eine Person bestraft werden, wenn diese den Charakter einer Ehrverletzung des Opfers haben. Den Tatbestand „sexuelle Belästigung“ gibt es nicht.
Als Nebenklägerin darf eine Geschädigte am Verfahren teilnehmen – als Zeugin dürfte sie erst zu ihrer Aussage in den Gerichtssaal, und danach nur im Zuschauerraum zusehen. Als Nebenklägerin hat sie über ihren Anwalt Akteneinsicht, darf eigene Zeugen, Beweise und Erklärungen einbringen und Fragen stellen.
Die Kosten für einen Anwalt, der eine Nebenklage im Strafverfahren vertritt, werden bei schweren Straftaten wie Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch von Kindern von der Staatskasse übernommen (§ 395a/397a Strafprozessordnung). Der Ausgang des Verfahrens ist dabei unerheblich. Wird der Angeklagte schuldig gesprochen, muss er die Kosten der Nebenklage übernehmen. Auf die Nebenklagevertretung spezialisierte Anwälte können häufig Frauenberatungsstellen empfehlen.
Vor der Sommerpause soll im Bundestag eine Reform des Sexualstrafrechts beschlossen werden. Grund: Deutschland hat 2011 die Istanbul-Konvention des Europarates unterzeichnet, laut der jede Form von sexuellen Handlungen „gegen den Willen einer Person“ zu bestrafen ist. Das deutsche Strafrecht ist davon weit entfernt.
In Köln gibt es die Möglichkeit der anonymen Spurensicherung. Haben Sie Erfahrung damit?
Ladenburger: Ich hatte eine Mandantin, die diese Möglichkeit genutzt hat, sie hat aber schnell Anzeige erstattet. Ich würde mir wünschen, dass dieses Konzept bekannter wird. Ärzte mögen Verletzungen zwar anders beurteilen als Rechtsmediziner, für die Verfahren sind solche Spuren aber nicht der entscheidende Punkt.
Sondern?
Schneider-Ratz: Verfahren scheitern eher an den Zeugenaussagen, speziell an der Aussage der Opferzeugin. Eine Frau muss bei der Schilderung einer Vergewaltigung praktisch jede Handbewegung – das Öffnen eines Reißverschlusses, das Herunterziehen der Hose, das Öffnen der Bluse, wiedergeben können. Das ist für viele Frauen eine unlösbare Aufgabe. So entstehen vage Bereiche: Hat er sich vorher oder nachher ausgezogen? Wo waren ihre Arme? Wo waren seine? Wenn sie an einer Stelle sagen muss: Das weiß ich nicht mehr, ist das schlecht.
Ladenburger: Und ich erlebe immer wieder, dass es außer der Aussage einfach keine Beweise gibt. Das ist in Beziehungsgewalt in der Regel die Konstellation. Der Beschuldigte sagt dann oft, es wäre einvernehmlicher Sex gewesen.
Es gibt die Forderung, die erste Vernehmung per Video aufzuzeichnen, um einen unmittelbaren Eindruck zu schaffen.
Ladenburger: Diese Argumentation unterstellt, dass man vom Verhalten der Betroffenen in der Vernehmung – wie sehr sie weint, wie erschüttert sie ist – irgendeinen Rückschluss ziehen kann, ob die Tat stattgefunden hat. Es gibt Frauen, die ganz kühl und sachlich berichten, was sie Grausames erlebt haben. Daraus zu schließen, das kann nicht passiert sein, finde ich fatal. Die Zeit der Protokolle, die in Polizeisprache formuliert haben, was die Betroffene ganz anders ausgedrückt hat, ist ohnehin weitestgehend vorbei. Es wird möglichst wortgetreu das wiedergegeben, was gesagt wurde, häufig wird die Aussage auch auf Tonband aufgezeichnet.
Schneider-Ratz: Je zeitnäher die Aussage zu Protokoll genommen wird, umso eindeutiger ist sie oft, weil bei solchen Taten schnell verdrängt wird. Für die Frauen ist das natürlich hart. Aber wenn die Polizei von einer Straftat erfährt, muss sie ohnehin sofort tätig werden. Sie kann nicht von den Vorgaben der Strafprozessordnung abweichen – die einen rechtsstaatlichen Prozess garantieren – und Sonderbehandlungen schaffen.
Problematisch ist offenbar der Nahbereich, also Taten in Beziehungen oder im Bekanntenkreis. Warum ist hier die Strafverfolgung oft so schwierig?
Ladenburger: Das Problem ist, dass dabei oft im rechtlichen Sinne keine Gewalt angewendet wird. Die sexuelle Handlung findet aber statt, obwohl die Frau sagt, nein, ich will das nicht. Wenn sie sich aus Furcht vor Gewalt nicht weiter wehrt oder in der Situation wie paralysiert ist – dann ist das in der rechtlichen Bewertung keine Vergewaltigung. Es gibt etliche Urteile, in denen ein klares Nein nicht ausgereicht hat, sondern nur die Frage war: Hat der Täter Gewalt angewendet? Nur dann macht er sich strafbar. Das Problem ist die Gesetzeslage: Wenn mir einer in der U-Bahn die Handtasche klaut, und ich wehre mich nicht, bleibt es ein Diebstahl. Mein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung muss ich aber aktiv verteidigen. Das kann ich nicht nachvollziehen.
„Der Paragraf 117 muss geändert werden“
Grundlage dafür ist der Paragraf 177 des Strafgesetzbuches. Er besagt: Eine Vergewaltigung findet nur statt, wenn Gewalt angewandt wird, wenn mit Gewalt gegen Leib und Leben gedroht wird, oder wenn eine schutzlose Lage ausgenutzt wird. Als was zählt denn: sich wehren? Muss man Gewalt provozieren?
Ladenburger: Im juristischen Sinne zählt das Überwinden eines Widerstandes als Gewalt. Das muss nicht heißen, dass man ein blaues Auge geschlagen bekommt. Die Gewalt muss nicht massiv sein, aber sie muss etwas mit einer körperlichen Kraftentfaltung zu tun haben.
Schneider-Ratz: Wenn der Täter etwa das Zusammendrücken der Beine überwindet oder Abwehrhandlungen mit den Händen – dann hat er Gewalt angewendet. Die Definition setzt eigentlich recht früh an. Die Abwehr der Frau muss nicht erheblich sein, aber sie muss eben vorhanden sein.
Es gibt die Forderung, diesen Paragrafen zu ändern: Eine Tat soll als Vergewaltigung zu werten sein, sobald sich der Täter über den geäußerten Willen des Opfers hinwegsetzt – also über ein klares Nein.
Ladenburger: Das entspricht der Istanbul-Konvention des Europarates. Sie sieht vor, dass die unterzeichnenden Staaten, auch Deutschland, umsetzen müssen, dass nichteinvernehmliche sexuelle Handlungen bestraft werden.
Wird das von der Beweisführung her nicht noch schwieriger?
Schneider-Ratz: Gesetze können auch als Signal für die Gesellschaft funktionieren. Wie die juristische Praxis damit umgeht, ist erst die zweite Frage. Die Vergewaltigung in der Ehe zum Beispiel…
Ladenburger: ...was war das für ein Theater, als die unter Strafe gestellt wurde! Und das war 1997, das ist noch gar nicht lange her. Es gab großen politischen Widerstand und immer dieses Argument: Da haben wir doch diese großen Beweis-Schwierigkeiten.
Schneider-Ratz: Natürlich haben wir hier erhebliche Probleme in der Praxis – wenn etwa die Frau auch Kinder hat aus der Beziehung und der einzige Ernährer in U-Haft sitzt, will sie oft irgendwann nicht mehr aussagen – und kann aufgrund der Ehe auch nicht dazu gezwungen werden. Da habe ich einige Verfahren erlebt, die wegen wirtschaftlicher Zwänge sang- und klanglos zu Ende gegangen sind. Gleichwohl war es überfällig, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen.
Sie würden eine Änderung des Paragrafen 177 also beide begrüßen?
Schneider-Ratz: Ja. Allein als Signal: Nein ist Nein!
Anzeige erstatten
Hilfe von Beratungsstellen
Wer sofort Anzeige erstatten will, der sollte auf Anraten der Frauennotrufe nicht irgendeine Wache aufsuchen, sondern eine Stelle, die auf solche Fälle spezialisiert ist. Wer sichergehen möchte, dass geschultes Personal vor Ort ist, kann dort anrufen und einen Termin vereinbaren. Außerdem muss die Betroffene nicht allein gehen. Entweder kann sie eine vertraute Person mitnehmen oder über die verschiedenen Beratungsstellen Beistand suchen.
Aus Sicht der Polizei sollte die Betroffene so schnell wie möglich handeln, um auch Spuren an Tatort und Täter sichern zu können. Martina Sundermann, Leiterin des spezialisierten Kriminalkommissariats 12 in Kalk, weist darauf hin, dass sich die Frauen unmittelbar nach der Tat besser erinnern. „Mit jedem erneuten Erzählen ändern sich auch die Erinnerung“, sagt sie.
Ein Recht darauf, die Aussage per Video oder Tonband aufzunehmen, gibt es nicht, selbst wenn Letzteres häufig getan wird. „Das freie Sprechen ist auch nicht jedermanns Sache.“ In der Regel wird die Aussage mitgeschrieben und später zur Autorisierung vorgelegt. Auch wenn Sundermann die Möglichkeit der anonymen Spurensicherung für sinnvoll hält, wird die Polizei niemanden darauf hinweisen.
Sobald die Polizei Kenntnis von der möglichen Straftat erhält, muss sie ermitteln – und die Frauen in ein Krankenhaus bringen, um den Befund zu dokumentieren. Die Polizei bezahlt den Mehraufwand für den Arzt, nicht aber zum Beispiel die Pille danach. (ihe)