Es gibt sie noch: die wilde Natur – auch in Deutschland. Eine Studie hat nun gezeigt, dass rund 0,6 Prozent der Fläche in Deutschland als Wildnis ausgewiesen ist.
Wälder, Küsten, MooreWo es in Deutschland noch echte Wildnis gibt
Wildnis. Da denken die meisten wahrscheinlich an tropische Regenwälder oder eine weite Steppe. Doch auch in Deutschland gibt es sie, die echte Wildnis. Wildnisflächen sind nach Definition der Naturschutzorganisationen vom Menschen weitgehend ungestörte Flächen, auf der sich die Natur nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln kann.
Die Fläche, auf die diese Definition zutrifft, ist in Deutschland jedoch nicht allzu groß: 0,62 Prozent der Landfläche, also etwa 220.614 Hektar, ist hierzulande als Wildnisgebiet ausgewiesen. Zum Vergleich: Das ist nur etwas kleiner als die Fläche Luxemburgs. Die am Montag vorgestellte Studie zur bundesweiten Wildnisbilanzierung der Heinz Sielmann Stiftung in Zusammenarbeit mit der Naturstiftung David und der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt zeigt: Deutschland verfehlt sein selbst gestecktes Ziel deutlich.
Mit der 2007 beschlossenen Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt hatte sich die Bundesregierung vorgenommen, bis zum Jahr 2020 zwei Prozent ihrer Landfläche für großflächige Wildnisgebiete auszuweisen. „Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass wir trotz der Bemühungen von Bund und Ländern von der Umsetzung des 2-Prozent-Wildnisziels in Deutschland noch weit entfernt sind“, sagt Heiko Schumacher, Leiter des Bereichs Biodiversität bei der Heinz Sielmann Stiftung. Zwar sind in den kommenden Jahren bereits weitere Flächen geplant; doch selbst damit steigt der Anteil nur auf 0,73 Prozent.
Wildnis ist wichtig für Tier und Mensch
Dabei sind Wildnisflächen eigentlich unverzichtbar. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt, indem sie einen Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten bieten. In Deutschland umfassen die Wildnisgebiete vor allem Nadelwälder (34,3 Prozent) und Laubwälder (24,9 Prozent). Aber auch Seen, Moore, Gebirge oder Küstengebiete sind als Wildnisgebiete ausgewiesen. Auch menschengeprägte Flächen können von der Natur zurückerobert und als Wildnis ausgewiesen werden. Besonders auf großen Gebieten wie ehemalige Bergbau- und Militärflächen kann sich die Natur besonders vielfältig entfalten.
Die Wildnis ist allerdings nicht nur für die Artenvielfalt wichtig, auch tragen große wie kleine Wildnisflächen zum Klima- und Hochwasserschutz bei. Die ursprünglichen Ökosysteme binden zum Beispiel das klimaschädliche Treibhausgas Kohlenstoffdioxid. Neben diesen Umweltaspekten dienen viele Gebiete auch als Erholungsorte und bieten der Wissenschaft eine besondere Grundlage zur Forschung.
Die Größe der wilden Gebiete in Deutschland variiert stark. Zu finden ist Wildnis in allen Bundesländern, die größten zusammenhängenden Flächen befinden sich vor allem in Nationalparks. Spitzenreiter ist der Müritz Nationalpark mit fast 27.000 Hektar, gefolgt vom Nationalpark Harz mit über 24.000 Hektar.
Zwar betont Adrian Johst, Geschäftsführer der Naturstiftung David, dass auch kleine ausgewiesene Gebiete von Bedeutung seien, doch besonders großflächige, zusammenhängende Gebiete seien wichtig für den Erhalt der Artenvielfalt. Hier könnten sich natürliche Prozesse besonders vielfältig entfalten und Konflikte mit angrenzenden Kulturlandschaften minimiert werden. Daher wird mit dem 2-Prozent-Ziel vor allem ein Fokus auf diese großflächigen Gebiete gelegt.
Um als großflächig zu gelten, muss die Fläche mindestens 1000 Hektar umfassen. Bei Mooren oder Küstenstreifen gilt das Gebiet schon ab 500 Hektar als großflächig. Wichtig dabei sei, dass diese Gebiete von Naturschutzbehörden oder einem Gesetz des Landes rechtlich geschützt werden und damit dauerhaft abgesichert sind. Um dies zu gewährleisten, werden meist nur Wildnisflächen aus der öffentlichen Hand – also Flächen, die dem Land, der Kommune oder Stiftungen gehören –, als solche ausgewiesen.
Es gibt noch viel Potenzial
Doch zumindest in der Theorie wären noch mehr Wildnisflächen möglich. Neben einer Bilanzierung der bereits bestehenden und geplanten Gebiete haben sich die Naturschutzorganisationen in der Studie auch das Potenzial in Deutschland näher angeschaut. „Unsere Hochrechnungen zeigen, dass sich auf weiteren 1,67 Prozent der Landesfläche großflächige Wildnisgebiete etablieren lassen und damit das 2-Prozent-Ziel sogar übertroffen werden könnte“, sagt Schumacher. Das sind 598.115 Hektar an Fläche in Deutschland.
Damit wären rund 2,4 Prozent Wildnisanteil in Deutschland möglich. „Wenn wir die Ziele erreichen wollen, dann müssen wir schauen, wo die großen Flächen sind“, so Schumacher. Diese gehören meist den Ländern und Kommunen. Besonders große Waldgebiete müssten zu Wildnisflächen erklärt werden, aber auch in Hochgebieten und im Bereich der ehemaligen Bergbaugebiete liege viel Potenzial. Naturschützer Johst ist daher optimistisch, dass Deutschland in den kommenden Jahren dem 2-Prozent-Ziel immer näherkommen wird. Aber: „Es bedarf weitere Rückendeckung für mehr Wildnis in Deutschland“.
Einige Bundesländer gehen mit gutem Beispiel voran. Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg seien kurz davor, das Ziel jeweils für ihr Land zu erreichen, so Johst. Diese Bundesländer haben viele zusammenhängende, also nicht durch zum Beispiel Straßen zerschnittene, Gebiete. Das bestehende Wildnisgebiet in Mecklenburg-Vorpommern liegt derzeit bei 1,63 Prozent – und einige neue Gebiete sind bereits in Planung. In Brandenburg sind es zurzeit 1,14 Prozent. Doch selbst im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen wären die zwei Prozent möglich, meint der Experte. „Der politische Wille muss nur da sein“. (RND)