Sie schnappte den Beatles den Grammy wegMusik-Legende Anita Kerr gestorben
Genf – Sie prägte Pop, Country und Easy Listening wie kaum eine andere: Die US-amerikanische Sängerin und Musikproduzentin Anita Kerr ist tot. Die seit Jahrzehnten in der Schweiz lebende Musikerin wurde 94 Jahre alt. Die Künstlerin gehörte in den 1950er und 1960er Jahren zu den ersten Frauen im Männer dominierten Musikgeschäft, die sich als Produzentin, Arrangeurin, Komponistin, Dirigentin und Pianistin behaupten konnte.
Anita Kerr: Grammy-Gewinn löste Skandale aus – Beatles und Beach Boys gingen leer aus
Kerr wurde insgesamt sieben Mal für den Grammy nominiert, zuletzt 1978. Drei Mal wurde Kerr mit der wichtigsten Musik-Auszeichnung der USA geehrt. Große Skandale waren insbesondere die Grammy-Gewinne Mitte der 1960er Jahre als die Anita Kerr Singers als beste Gesangsgruppe des Jahres ausgezeichnet wurde. Pikanterweise setzte sich die als brav und konservativ geltende Easy-Listening-Vokal-Gruppe gegen Pop- und Rockbands wie die Beatles mit ihrem „Help!“, den Beach Boys („Good Vibrations“) oder Mamas & Papas („Monday, Monday“) durch, was seinerzeit insbesondere vom hippen Rock-Feuilleton kontrovers diskutiert wurde. Kerr nahm es mit Humor und veröffentlichte 1967 das Album „All You Need Is Love“ – der Titelsong stammt von den Beatles.
Pionierin in Country und Pop
Zu diesem Zeitpunkt war Kerr längst eine Größe – trotz zahlloser Alben unter eigenem Namen vor allen Dingen hinter den Kulissen des Musikgeschäfts. Seit den 1950er Jahren hatte sie sich einen Namen als eine der führenden Arrangeurinnen und Produzentinnen Nashvilles gemacht. Ohne sie wäre der kommerzielle, sanfte „Nashville Sound“, der seinerzeit in Mode war, undenkbar gewesen. Charlie Rich, Jim Reeves, Don Gibson, Chet Atkins, Bobby Bare, Skeeter Davis, Dottie West – die Liste ihrer Kollaborationen ist ein „Who is Who“ der damaligen Country-Szene. Auch Pop- und Rock-Künstler wie Elvis Presley, Rosemary Clooney, Perry Como, Pat Boone oder der große Roy Orbison vertrauten auf Kerr, die neben den Arrangements oder Produktionen in der Regel auch ihre Singers mit im Studio hatte.
Und so erklangen Kerr und ihre Backgroundsänger auf zahllosen Klassikern jener Tage, wie Roy Orbisons „Only the Lonely“, 1960 Platz zwei in den USA und Platz eins in Großbritannien. Zu den weiteren Hits, die auch heute noch gespielt werden, gehören Bobby Helms' „Jingle Bell Rock“ oder Brenda Lees „Rockin' Around the Christmas Tree“, die zur Weihnachtszeit jedes Jahr die Charts erobern. Darüber hinaus auch Lees „I'm Sorry“, Eddy Arnolds „Make the World Go Away“, Jim Reeves' „He'll Have to Go“ und Orbisons „Running Scared“. Auch als Mitglied der kurzlebigen Little Dippers hatte Kerr 1960 mit „Forever“ einen Top-10-Pop-Hit. Als Produzentin wirkte sie unter anderem an Skeeter Davis' Nummer-eins-Hit „The End of the World“ mit.
Anita Kerr Singers: Easy Listening- und Space-Age-Meilensteine
Als Interpretin hatte Kerr bereits Anfang der 1950er Jahre das Anita Kerr Quartet gegründet, das später als The Anita Kerr Singers viele erfolgreiche und einflussreiche Easy-Listening-Alben aufnehmen sollte. Besonders bemerkenswert waren eine Reihe von Konzeptalben, die sich nicht nur ausgewählten Komponisten und Sängern widmeten, sondern als Meilensteine des Easy Listening und Space Age Pop gelten.
„We Dig Mancini“ von 1965 war ein Tribut an den Hollywood-Komponisten Henry Mancini. 1967 ehrten die Singers den deutschen „Vater des Easy Listening“ Bert Kaempfert mit „Bert Kaempfert Turns Us On!“. Zwei Jahre später waren Burt Bacharach und Hal David, die erfolgreichsten Komponisten der 1960er Jahre nach John Lennon und Paul McCartney, dran. „Reflect on the Hits Of Burt Bacharach & Hal David“ wurde 1969 zum erfolgreichsten Album von Kerr. Tributalben an Jim Reeves (1968), Simon & Garfunkel (1971) oder Stevie Wonder (1979) schlossen sich an.
Kerr wagte sich aber auch an klassische Musik: So verbindet die LP „Slightly Baroque“ von 1969 Ward Swingles erfolgreiche Swingle-Singers-Interpretationen der Werke von Bach, Mozart und anderen klassischen Komponisten mit dem coolen Bossa-Nova-Gesang von Astrud Gilberto.
Anita Kerr in der Schweiz: Die späteren Jahre
Kerr zog 1970 in die Schweiz, und veröffentlichte bis zum Ende des Jahrzehnts weitere Platten. Musikalisch zog es sie zur christlichen Pop- und Gospel-Musik. 1975 gründete sie mit ihrem Mann in Montreux die Mountain Studios, die sie vier Jahre danach an die englische Rockband Queen verkaufte.
1985 sorgte sie noch einmal für Schlagzeilen als sie den Schweizer Eurovisionsbeitrag „Piano, Piano“ von Mariella Farré und Pino Gasparini nicht nur komponierte, sondern auch – ein absolutes Novum – als Dirigentin auf der Bühne stand. Kerr leitete als dritte Frau das Orchester beim Eurovision Song Contest. Bis heute war es das letzte Mal, dass eine Frau das Orchester dirigierte.
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Im Anschluss wurde sie mehrfach für ihr Lebenswerk geehrt, so 1992 von der Recording Academy. Ihr Ruhm verblasste jedoch mehr und mehr, sodass sie zuletzt fast vergessen in Genf lebte. Schon seit vielen Jahren hatte sie sich in ihr Privatleben zurückgezogen. Seit den 2000er Jahren wurden etliche ihrer alten Aufnahmen wieder aufgelegt. So kann man die meisten ihrer Alben als Stream bei Spotify anhören.