Köln – Der 9. Juni 2004 ist ein Frühsommertag mit angenehmen Temperaturen, sonnig, leichter Wind, keine Schwüle. Perfekt für ein Treffen in der Pause am Nachmittag. Sandro D. ist mit seinem türkischen Freund Melih K. in der Keupstraße verabredet. Er ahnt nicht, dass dieser schöne Tag, wie er 14 Jahre später im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München aussagen wird, „mein Leben aus den Angeln hebt“. Dass er Stunden später schwerstverletzt im Klinikum Merheim in der Notaufnahme liegt. Er und sein Bekannter haben genau in dem Augenblick den Friseurladen von Özcan Yildirim passiert, als eine auf einem davor abgestellten Fahrrad deponierte Bombe explodiert.
Die Wucht der Explosion sei so groß gewesen, dass er durch die Luft geflogen und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufgeschlagen sei, sagt Sandro D. Alles sei wie in einem Stummfilm an ihm vorbei gelaufen. Ein Sprengstoff-Experte des bayerischen Landeskriminalamts schildert später die extrem zerstörerische Wirkung der Nagelbomben-Explosion und die tückische Wirkung des eingesetzten Schwarzpulver-Sprengsatzes. „Die Nägel waren heiß, als sie bei mir einschlugen“, und hätten für „Multi-Verletzungen“ gesorgt, berichtet D. vor Gericht, als zitierte er aus einem ärztlichen Bulletin. Einer der Zimmermannsnägel, die in D.s Körper steckten, war zwölf Zentimeter lang, sagt der Unfallchirurg vor Gericht aus.
Ausstellung in Köln
Das Projekt „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“ ist eine Kooperation von elf Regionalmedien, darunter der „Kölner Stadt-Anzeiger“ in Zusammenarbeit mit dem „Weißen Ring e.V.“, unter der Leitung des gemeinnützigen Recherchezentrums „Correctiv“.
Das Herzstück des Projekts sind die Porträts von 57 Menschen, die auf sogenannten „Feindeslisten“ von Neonazis und Rechtsextremisten stehen oder standen. Sie werden in einer Wanderausstellung gezeigt, die vom heutigen Dienstag, 20. Juli, bis zum Freitag, 23. Juli, täglich von 11 bis 18 Uhr auf dem Kölner Ebertplatz zu sehen ist.
Außerdem erscheint am 29. Juli ein gleichnamiges Buch. Auch daran hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ mitgearbeitet. Es enthält neben den Porträts auch Recherchen zum Ausmaß und zur Komplexität des rechten Terrors in der Bundesrepublik.
Alles sei furchtbar gewesen. An den Folgen habe er jahrelang gelitten. Schlimmer noch als die körperlichen Schmerzen seien die seelischen Verletzungen gewesen, vor allem, dass man ihn und seinen Freund lange als Attentäter verdächtigt habe.
Beide sind wie alle Betroffenen in der Keupstraße Zufallsopfer. Die Täter waren ortsfremd und wollten möglichst viele Menschen türkischer Abstammung töten oder lebensgefährlich verletzen. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ und das Recherchenetzwerk „Correctiv“ sind in internen Unterlagen, die sie im Rahmen einer Kooperation einsehen konnten, auf zahlreiche Datenbanken gestoßen, in denen die Terrorzelle NSU Informationen über Personen, Organisationen, Einrichtungen und Institutionen in Köln sammelte. Sie tragen Namen wie „flüchtling“, „synagoge“ oder „erzbisch“ und waren abgespeichert im Ordner „Killer“.
Opfer jahrelang zu Unrecht verdächtigt
Sandro D. und Melih K. hatten sich in einem Schnellrestaurant in der Keupstraße ein Dönerbrötchen geholt. Bei der Explosion gab es eine grelle Stichflamme, durch die K.s damals langes Haar in Brand geriet. Als er Tage nach den erlittenen schweren Verbrennungen aus dem künstlichen Koma erwachte, habe er sich mit seinen bandagierten Beinen „wie eine Mumie“ gefühlt. Beim Anblick seiner Muskeln und Sehnen habe er sich „an Objekte in der Leichenschau von Gunther von Hagens“ erinnert gefühlt. Das sei schrecklich gewesen, aber „umgehauen“ hätten ihn die Vernehmungen im Krankenhaus.
Die Polizei habe ihn als Schwerverletzten, der notoperiert werden musste, als Tatbeteiligten im Visier gehabt. Sogar Fingerabdrücke und DNA-Proben wurden in der Klinik genommen. Die Polizisten wollten auch wissen, wer sonst noch hinter dem Anschlag stecken könnte. „Vielleicht so Nazis“, zitiert der Richter aus einem Kölner Vernehmungsprotokoll. Und als Zeuge im Prozess erklärt D., „Ausländerhass ist die einzige Möglichkeit, die ich mir denken konnte. Dazu braucht man keine Ermittler.“
Jahrelang sahen die 22 Opfer des Nagelbomben-Attentats sich als Täter oder zumindest Unterstützer verdächtigt. „Man kann sich vorstellen, was das mit einem Geschädigten macht“, sagte Sandro D.s Rechtsbeistand Tobias Westkamp. Vom ersten Tag an hatte sich die Polizei auf höhere Weisung hin auf die Theorie versteift, die Täter müssten aus dem Türsteher-Milieu stammen oder Schutzgeld-Erpresser sein.
Vernehmungsprotokolle belegen einseitige Ermittlungen
Bundesinnenminister Otto Schily und in deutlichem Gleichklang sein NRW-Kollege Fritz Behrens (beide SPD) hatten sich keine 24 Stunden nach der Explosion der Splitterbombe darauf festgelegt, dass der Anschlag auf das Konto eines „kriminellen Milieus“ gehe.
Einer der wenigen Verantwortlichen, die ein „politisches oder fremdenfeindliches Motiv“ zumindest nicht ausschließen wollten, war der für Staatsschutzdelikte zuständige Kölner Oberstaatsanwalt Rainer Wolf. „Die Profiler haben uns gesagt, dass wir es mit lokalen Tätern zu tun haben.“ Auf Wolf wollte offenbar niemand hören.
Die „Aufklärung“ verlief eindimensional. Das lässt sich Vernehmungsprotokollen entnehmen, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ und „Correctiv“ ebenfalls einsehen konnten. Zum Beispiel im Fall von Onur Z. (Name geändert). Er überstand den Anschlag durch großes Glück relativ glimpflich, obwohl er sich gerade im Salon von Özcan Yildirim rasieren ließ, als die Bombe explodierte. Mehr als die Schilderung der Geschehnisse durch den Augenzeugen Z. interessierte die Vernehmenden etwas ganz anderes: Ob Türsteher in die Sache verwickelt sein könnten. Ja, das werde behauptet, „aber das glaube ich nicht“. Und dann sagt Onur Z. laut Protokoll etwas Erstaunliches, das die Kripoleute nicht gern hörten: „Ich denke, es hat eher einen rechtsradikalen Hintergrund. Man will das Zusammenleben der Türken hier stören.“ Danach wird er ganz unvermittelt nach Schutzgeld gefragt. Er könne ausschließen, dass das Reisebüro seines Vaters da mitmache. Welche Gerüchte über die möglichem Drahtzieher denn die Runde machten? „Keine Ahnung.“ Und wer im Friseurladen so alles verkehre, bohrt der Vernehmende weiter. In die Mangel genommen, als wäre er zumindest Komplize, gibt er an, dort tauchten „schon mal breitschultrige Bodybuilder-Typen mit Spitzen-Mercedes oder Ferrari auf“.
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Ganz ähnlich verläuft die Vernehmung von Alpay S. (Name geändert), der sich oft in dem Friseursalon aufhielt. Er antwortet auf die sich wie in einem Drehbuch wiederholenden Standardfragen einsilbig und knapp, bestätigt dann aber immerhin, dass gelegentlich auch Kunden aus Türsteher-Kreisen kämen.
Schwerwiegende Irrtümer eingeräumt
Jahre vergingen. Die ungeklärten Ereignisse gerieten außerhalb der türkischen Community weitgehend in Vergessenheit. Erst als der NSU, damals von den Behörden unter „Zwickauer Terrorzelle“ geführt, am 4. November 2011 aufflog, richtete sich der Fokus der Medien und der Politik wieder auf die Keupstraße. Es setzte eine regelrechte Invasion von Spitzenpolitikern in Mülheim ein, unter ihnen war der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel, der mit staatstragender Miene in die Mikrofone sagte: „Wir müssen uns schämen.“ Parteifreund und Ex-Innenminister Schily räumte einen „schwerwiegenden Irrtum“ ein. Seine Fehleinschätzung war auch für das dilettantische Vorgehen der Ermittlungsbehörden ausschlaggebend. Eine vom Landeskriminalamt NRW schon um 17.04 Uhr, nur eine gute Stunde nach dem Anschlag, versandte „Lage-Erstmeldung“ war mit der „Betreff“-Zeile „Terroristische Gewaltkriminalität“ überschrieben.
Kritische Beobachter sprachen von einer „der Fakten- und Erkenntnislage diametral entgegenstehenden staatlichen Informationspolitik“ und einem „planvollen Verschweigen“. Mehrere Nebenklagevertreter im Münchner NSU-Prozess geißelten all dies als „Anschlag nach dem Anschlag“.
Unklar ist bis heute die Rolle, die der Verfassungsschutz – wie im gesamten NSU-Komplex – im Fall Keupstraße gespielt hat. Im NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss gab ein Referatsleiter zu, es sei „ungewöhnlich“, dass sich die Kölner Zentrale nur zweieinhalb Stunden nach der Tat selbst aktiv einschaltete und im Lagezentrum der Polizei um (wohl auch erfolgte) Kontaktvermittlung bat.
Mahnmal kann endlich verwirklicht werden
17 Jahre später. Die Keupstraße hat zu ihrer Normalität und Lebensfreude zurückgefunden. Doch die Ereignisse vom 9. Juni 2004 lassen sich nicht ausblenden. Vor zwei Jahren versetzten Flyer einer dubiosen rassistischen „Atomwaffendivision“ in den Briefkästen die Anwohner in Unruhe. Auf der Rückseite des Flugblatts war die comicartige Darstellung eines Vermummten zu sehen, der einen betenden Mann in einer Moschee mit einer Axt attackiert.
Zum Jahrestag des Attentats vor fünf Wochen wurde unter dem Motto „Erinnern heißt kämpfen – kein nächstes Opfer!“ die Notwendigkeit des Mahnmals betont, das nach quälend langem Streit endlich im Bereich Keupstraße/Schanzenstraße verwirklicht werden kann. Wenn es gut geht bis 2024, dem 20. Jahrestag.