„Eltern müssen nicht perfekt sein, sondern nur gut genug“

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KÖLNER STADT-ANZEIGER Frau Professor Tschöpe-Scheffler, Eltern bekommen heute von allen Seiten Ratschläge. Macht sie das im Umgang mit ihren Kindern sicherer?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER Eltern bekommen heute auf jede Erziehungsfrage ganz unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Antworten - von der Schwiegermutter, der Freundin oder irgendwelchen Erziehungsratgebern. Das verunsichert sie oft. Aber eigentlich haben sie selber eine Antwort, sie fühlen eine Antwort.

Wieso tun sich Eltern heute so schwer, auf ihre innere Stimme zu hören?

TSCHÖPE-SCHEFFLER Viele Eltern glauben, perfekt sein zu müssen und immer eindeutige Lösungen für Probleme haben zu müssen. Dadurch orientieren sie sich oft an anderen und trauen ihrer eigenen Wahrnehmung nicht.

Ist das von Beginn an so?

TSCHÖPE-SCHEFFLER Direkt nach der Geburt in der Regel nicht. Mütter, die ihr Kind bejahen, geraten in den ersten Tagen und Wochen mit dem Neugeborenen in eine Art Interaktionstanz. Die Mutter ahmt das Kind nach, das Kind imitiert die Mimik und die Blicke der Mutter. Die Mutter hält das Kind intuitiv auf den richtigen Abstand, so dass es sie am besten erkennen kann. Diese besondere Kommunikation wird erst gestört, wenn der Stress zunimmt - die Anforderungen in der Familie, in der Partnerschaft und manchmal auch im Beruf. Dann kommt die Unsicherheit und die Suche nach Patentrezepten ...

... die auch hin und wieder nützlich sind, oder nicht?

TSCHÖPE-SCHEFFLER Die schnellen Lösungen klingen oft gut, führen aber auf Dauer nur wieder zu Frustrationen. Jedes Kind ist anders, jede Mutter ist anders, jeder Vater ist anders. Ich empfehle gute Elternkurse, die keine fertigen Erziehungs-Rezepte präsentieren, sondern vor allem das Vertrauen der El„tern in sich selbst unterstützen. Das sind zum Beispiel: „Starke Eltern, starke Kinder“, „Step“ oder „Kess“. Solche Kurse geben auch den Mut, mal etwas auszuprobieren - und dabei auch mal was falsch zu machen.

Aber gerade das wollen sie doch vermeiden ...

TSCHÖPE-SCHEFFLER Viele der Eltern kommen, weil sie noch perfekter sein wollen. Aber Eltern müssen nicht perfekt sein. Gut genug reicht. Eltern haben verschiedene Temperamente, einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund. So ist es zum Beispiel deutschen Müttern oft wichtig, dass die Kinder pünktlich im Bett sind. In Italien werden sie überall mit hingenommen und schlafen, wenn sie müde sind. Nichts davon ist eindeutig richtig oder falsch.

Das klingt nach Beliebigkeit. Wo ist die Grenze?

TSCHÖPE-SCHEFFLER Eltern haben eine Beziehungsverantwortung. Sie müssen immer hinterfragen, ob das gemeinsame Leben dem Kind gerecht wird. Dazu gehören Liebe und Anerkennung, aber auch Struktur und Grenzsetzung und damit so etwas profanes wie ausreichender Schlaf. Eltern müssen schon bereit sein, ihre eigenen Bedürfnisse einzuschränken. Wichtig ist es, die eigene Wahrnehmung zu schulen: Geht es meinem Kind gut? Welche Bedürfnisse hat es? Kinder sind nicht alle gleich.

Was Sie sagen ist aber gegen den Trend des pädagogischen Machbarkeits-Wahns ...

TSCHÖPE-SCHEFFLER Das ist das richtige Wort. Und so ein Machbarkeits-Wahn ist typisch für Zeiten großer Unsicherheit. Neulich ist mir die Werbung eines Supermarktes in die Finger gekommen, in der auf einer ganzen Seite Sicherheits-Produkte angepriesen wurden. 100 Überlebensobjekte für zu Hause. Und so ähnlich läuft es momentan in der Erziehung. Wir wollen alles kontrollieren und hoffen, dass wir die absolute Sicherheit haben, wenn wir nur die richtigen Methoden anwenden.

Lückenlose Kontrolle über die Aktivitäten der Kinder zu haben - das ist doch heute fast ein Status-Symbol. Montags Musikschule, dienstags Ballett, &

TSCHÖPE-SCHEFFLER Tatsächlich liegt es im Trend, Zeit immer mehr zu strukturieren. Kindheit ist strukturierter. Das liegt aber auch an der oft mangelnden Zeit. Die Eltern haben ein schlechtes Gewissen und meinen, die verbliebene Zeit mit dem Kind möglichst sinnvoll gestalten zu müssen. Einfach loszulassen, mit dem Kind im Augenblick zu leben, offen zu sein für das, was das Kind will - das fällt uns schwer. Aus Angst, etwas könnte entgleisen, etwas könnte passieren, auf das wir nicht vorbereitet sind.

Sie fordern die Eltern auf, Kontrolle abzugeben, zu vertrauen. Wie schützen sich Eltern vor dem Vorwurf der Verwahrlosung?

TSCHÖPE-SCHEFFLER Übermäßige Kontrolle wird oft damit begründet, nur das Beste für das Kind zu wollen. Aber das Loslassen gehört dazu. Kinder müssen sich dem Leben aussetzen und haben Entfaltungskräfte, die verkümmern, wenn Eltern ihren Kindern alles abnehmen. Es ist wichtig, dass Kinder auch Beziehungen zu anderen Menschen haben. Und es ist eine Entlastung für Eltern, Verantwortung abzugeben ...

Tun sie das denn nicht?

TSCHÖPE-SCHEFFLER Kindheit hat heute oft etwas sehr konstruiertes. Das wahre Leben, das sind Menschen, Ereignisse, Schicksalsschläge. Daraus ergeben sich Fragen. Und natürlich auch Risiken. Aber statt in das Leben und die Kraft der Kinder zu vertrauen, wird heute viel standardisiert: So hat eine gute Mutter, ein guter Vater zu sein. So sieht eine glückliche Kindheit aus. Aber der ständige Vergleich verunsichert Eltern. Dabei brauchen wir vor allem eins: eine Kultur der Ermutigung.

INTERVIEW: ISMENE POULAKOS

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