Kinderreichtum ist nicht nur bei den Stars und Prominenten durchaus normal, sondern auch in der Welt der Durchschnittsdeutschen – und auch wieder nicht. In den vergangenen Sommerferien wollten die Nagels zum ersten Mal seit Jahren in den außerdeutschen Urlaub fahren. Die Familie aus Köln zählt sieben Köpfe: Mutter Daniela und Vater Michael mit Elias (14), Hanna (12), den siebenjährigen Zwillingen Gabriel und Matthias und Nesthäkchen Jakob (3).„Auf den einschlägigen Internetportalen der Reiseveranstalter scheitert eine Suchanfrage für uns, abgesehen vom Preis, schon daran, dass die Suchmasken maximal drei Kinder vorsehen“, erzählt Michael Nagel, lächelnd und doch ungläubig.
Außerirdische oder Superstars?
Laut Familienreport 2012 wächst knapp jedes dritte Kind in Deutschland mit zwei oder mehr Geschwistern auf. 1,4 Millionen kinderreiche Familien gibt es – das sind Familien mit mindestens drei Kindern, Patchwork-Familien nicht eingerechnet. Sie machen zwölf Prozent der deutschen Familien aus. Da aber viele Frauen gar keine Kinder mehr bekommen, wird die Großfamilie im täglichen Leben – vorsichtig formuliert – eben doch oft mit großen Augen angeschaut. „Sind das wirklich alles ihre? Ich dachte, Sie seien die Tagesmutter“, hörte Mutter Daniela Nagel (36) schon auf dem Spielplatz. „Es gibt auch Menschen, die sprechen extra langsam mit einem, wenn man mit einem Haufen Kinder herumläuft“, fügt sie mit leichter Ironie hinzu. Fernsehformate wie „ Die Wollnys“ lassen die Masse offenbar eher schauernd an Großfamilien denken und sie in unteren gesellschaftlichen Schubladen verschwinden; vergessen die Zeiten, als „Eine himmlische Familie“ die Sehnsucht nach Harmonie und Geborgenheit befriedigte.
Kinder Nummer drei und vier kommen im Leben besser zurecht als Kind eins und zwei.
Seit Jahren stagniert die Fertilitätsquote in Deutschland statistisch bei etwa 1,4 Kindern pro Frau (2011 waren es 1,36 Kinder). Um aber die umlagefinanzierten Sozialsysteme wie Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung stabil zu halten, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und den Wohlstand in Deutschland zu mehren, ist eine Quote nahean der Reproduktion um die 2,0 notwendig. Da immer mehr Frauen sich ganz gegen den Lebensentwurf Mutter entscheiden, kann es unter demografischen und ökonomischen Gesichtspunkten keine zwei Meinungen zur Großfamilie geben. Mütter wie Daniela Nagel müssten beim XXL-Einkauf im Supermarkt nicht wie Außerirdische sondern eher wie Superstars empfangen werden. In den kommenden Jahren werden die geburtenstarken Baby-Boomer-Jahrgänge (1955-1965) in Rente gehen. Und da die Rentensysteme eben nicht so aufgebaut sind, dass der heute Erwerbstätige seine eigene Rente auf Raten vorabzahlt, sondern mit seinen Beiträgen die Altersruhe der Vorgenerationen trägt, sieht es für die Kinder der anstehenden Rentner düster aus. Immer mehr alte Last muss von immer weniger jungen Schultern getragen werden.
Nach Berechnungen der Bundeszentrale für Politische Bildung mussten 2010 zwei Beitragszahler für die Rente eines über 60-Jährigen aufkommen. 2030 wird diese Leistung bereits von 1,3 Erwerbstätigen geschultert werden müssen; 2060 gar ist das Verhältnis fast eins zu eins. „Derzeit sind die Kassen wegen der geburtenschwächeren Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge noch gut gefüllt. Die Lücke reißt mit den Baby-Boomern dann aber umso kräftiger auf“, sagt Hermann Adrian, Physikprofessor im Ruhestand und Demografie-Experte.
Adenauers Sozialirrtum
„Kinder kriegen die Leute immer.“ Mit diesem Satz befreite dereinst Konrad Adenauer den Staat von jeglicher Verantwortung für die Reproduktion des eigenen Volkes – ein Sozialirrtum. „Unsere Gesellschaft ist dennoch von der Idee überzeugt, Kinder seien unser Privatvergnügen. Das stimmt aber nicht, weil meine Kinder später die Rente von Wildfremden bezahlen werden“, klagt auch Stephan Hiller. Er ist Familienrechtsanwalt in München und Vater von sieben Kindern im Alter zwischen einem und 22 Jahren. „Spätestens nach dem dritten Kind ist das Zweiverdienermodell absurd, da wird ein Elternteil ganztätig zu Hause gebraucht. Um den Verdienstausfall aufzufangen, muss ich zwangsläufig mehr arbeiten. Der erste, der von dieser Mehrarbeit profitiert, ist der Staat durch die Steuerprogression“, stellt Hiller fest und fordert von der Politik ein gerechteres Steuermodell, das Familiensplitting. Dabei wird, vereinfacht gesagt, das verfügbare Einkommen durch die Anzahl der Familienköpfe geteilt und auf diese Beträge werden Steuern erhoben.
Wir wünschen uns,
... dass die Stadt Köln das Home-Office-Modell wieder einführt und Vater Michael für zwei Tage in der Woche effizient und familienfreundlich von zu Hause arbeiten kann.
... dass Familienkarten für Zoos, Schwimmbäder etc. auch tatsächlich Familienkarten sind und nicht nur zwei Elternteile und zwei Kinder berücksichtigt werden.
... dass das Einkommen nach der Anzahl der Köpfe in der Familie besteuert wird.
... dass der Lohn für die disziplinierte Arbeit von Daniela, die sich jeden Tag von 9 bis 12 Uhr an ihren Schreibtisch setzt, um Bücher zu schreiben, weniger stark von Versicherungen und der Steuer aufgefressen wird, sondern mehr dem Familieneinkommen zugute kommt.
... dass jeder versteht, dass selbst in Familien, in denen Kinder das größte Glück sind, der Grat zwischen kreativem Chaos und Überforderung schmal sein kann und dass hier kein mitleidiger Blick von außen hilft, sondern Verständnis und Unterstützung der Gesellschaft.
... dass die Großfamilie aus der Schmuddelecke geholt wird. Schaut auf Angelina Jolie, Victoria Beckham und Heidi Klum. Wir sind so normal wie die, nur, dass unser Job eben nicht auf dem roten Teppich stattfindet.
Die Planungen zur Einführung des Splittings schreiten voran, und auch mit dem Ausbau der Unter-Dreijährigen-Betreuung und der Einführung des Elterngeldes versucht die Politik, Frauen die Mutterschaft schmackhaft zu machen. Allein es fehlen die messbaren Erfolge. „Der Landkreis mit der höchsten Fertilität in Deutschland, Cloppenburg-Vechta mit zwei Kindern pro Frau, hat gleichzeitig die zweitniedrigste Kleinkindbetreuungsdichte“, sagt Physiker Adrian. Wäre es also leichter, die kinderlosen Frauen kinderlos zu belassen und dafür mehr Zwei-Kind-Mütter zu überzeugen, das dritte oder vierte in die Welt zu setzen?
„Wer sich heute überhaupt für Kinder entscheidet, ist oft auch bereit, mehr Kinder zu bekommen“, schreibt Daniela Nagel in ihrem neuesten Buch „Fünf Kinder? Sie Ärmste“. Sie berichtet aus eigener Erfahrung, da sie immer mehr Familien mit drei oder vier Kindern kennt. „Wenn du dich traust, dann trau ich mich auch“, hat eine Mutter aus dem Kindergarten zu Daniela gesagt, als sie mit Jakob schwanger war – und bekam selber ihr viertes. „Ich denke, dass wir uns nicht von der Politik zum Kinderkriegen drängen lassen sollten. Wahlfreiheit ist ein kostbares Gut und kein Kind sollte zu irgendeinem Zweck geboren werden“, sagt Nagel. Aber Wahlfreiheit bedeute eben auch, dass der Blick der Gesellschaft nicht so häufig schief ausfallen dürfe, wenn sich eine Frau für mehr als zwei Kinder entschiede. „Googeln Sie doch einfach mal. Sie werden schnell merken, dass die meisten Einträge darauf schließen lassen, dass viele Kinder zu kriegen etwas für Dumme oder Asoziale ist. Und in jedem Fall ein sicherer Schritt in die Armut.“ Natürlich brauchen fünf Kinder mehr Essen, mehr Schuhe, mehr Kleidung als zwei Kinder. Das Auto ist größer, die Waschmaschine läuft dauernd. Bei den Nagels verschwinden gut 1000 Euro im Monat beim Lebensmitteleinkauf. „Das allergrößte sind Drive-Through-Supermärkte. Bestellen, hinfahren, abholen. Sehr entspannt“, freut sich Vater Michael. Trotz aller Mehrausgaben bleiben die Kinder nicht auf der Strecke: Der 14-jährige Elias geht ins Fitnessstudio, die Zwillinge Gabriel und Matthias spielen Gitarre und Handball. Tochter Hanna singt im Chor und macht Ballett. Und dass Nesthäkchen Jakob schon mit zwei Jahren in den Kindergarten gehen konnte, ist für die Familie eine große Erleichterung. Die beiden Autoren Bernd Eggen und Martina Rupp haben 2006 als erste die Entwicklung großer Familien in Deutschland wissenschaftlich untersucht. „Kinderreiche Familien erreichen gerade 56 Prozent des Wohlstandsniveaus kinderloser Paare. Interessanterweise wird dies von den Kinderreichen aber nicht als belastend empfunden.“ Daniela Nagels Fazit: „Wer sich bewusst für viele Kinder entscheidet, setzt seine Prioritäten selten im materiellen Bereich. Nach 13 Jahren mit Kindern kann ich nur sagen, dass das meiste aus dem Erwachsenenleben wieder zurückkommt, die Kinder aber nicht. Wenn mich mein Jüngster nachts ruft und ich mich neben ihn kuschele, denke ich oft daran, dass auch er irgendwann das allerletzte Mal nachts meine Gesellschaft wünscht.“
Kleine Hilfen im Alltag willkommen
Statt großer Leistungskataloge hätte die Familie Nagel gern ein bisschen mehr Verständnis im Alltag, ein bisschen Unterstützung und Entgegenkommen. So geht Daniela Nagel gern in die örtliche Bibliothek. „Dort bekommt jedes Kind einen kostenlosen Ausweis, egal, wie viele Geschwister es hat oder wie viel Geld die Eltern haben.“ Im Gegensatz dazu stünde die sogenannte Familienkarte. „Der reguläre Eintritt im Kölner Zoo beträgt für uns 70,50 Euro, weil die Familienkarte nur zwei Eltern mit zwei Kindern berücksichtigt. Das als einziges Familienmodell durchgehen zu lassen, ist doch lächerlich.“ Positiv sei, dass die Stadt ihre Bürger einmal im Monat kostenlos in ihre Museen einlädt. Da Köln jedoch unter Haushaltssicherung steht, kann damit jederzeit Schluss sein – ein Riesenverlust, glaubt Daniela Nagel. „Ich bin mir sicher, dass kein Euro mehr in die Museumskasse fließen würde.“
Und trotz Ungerechtigkeit, schiefer Blicke und der Belastungen durch die Großfamilie entscheiden sich viele Frauen für Kinderreichtum. „Ich glaube, dass das daran liegt, dass die guten Erfahrungen letztendlich die Ängste übertreffen“, sagt Mutter Daniela. Als sie einmal ohne Geldbörse an der vollen Kasse im Supermarkt stand, mitsamt der Kinderschar, sei ihr das klar geworden. „Es war eine Situation zum In-Schweiß-Ausbrechen. Aber alle waren so freundlich und geduldig, als wäre irgendwo eine Kamera versteckt. Die Frau hinter mir bot sogar an, für mich zu bezahlen. Da dachte ich, die Welt ist also doch nicht so schlecht.“ Die Gesellschaft profitiert im Umkehrschluss eben auch von den Familien, nicht nur monetär. Sie wird bereichert von Dingen, die dort gelernt werden: Rücksichtnahme; einstecken und sich durchsetzen können; Verantwortung tragen; sich nach einem Streit wieder vertragen können und müssen, weil man eben doch gemeinsam weiter durchs Abendessen und Leben muss. Jedes Kind findet in der Familie den eigenen Platz, wie Georg Cadeggianini in seinem Buch „Aus Liebe zum Wahnsinn: Mit sechs Kindern in die Welt“ erzählt: „Ein normaler Vorleser hat drei Seiten: links, rechts und Schoß. Nur wer einen dieser drei Plätze ergattert, dem ist der freie Blick ins Bilderbuch gewiss. Nischenmeister Jim (Cadeggianinis jüngster Sohn) hat nun – sehr zu meinem Leidwesen – einen vierten Platz aufgetan: auf dem Kopf des Vorlesers.“
Studien zeigen, dass in der Regel das älteste Kind in einer Mehrkindfamilie der Pflicht- und Machtbewusste ist. „Überproportional viele US-Präsidenten waren Erstgeborene“, schreibt die Psychologin Linda Blair in ihrer Geschwisterstudie „Großer Bruder, kleine Schwester“. Zweitgeborene oder Sandwichkinder zeigen sich laut Blair häufig als sehr sozial kompetent. Nesthäkchen schließlich sind die Kreativen, so wie Jim. Sie müssen die Lücke im System Familie finden. Bekämen nun alle Deutschen nur noch zwei Kinder, hätten wir viele Führungspersönlichkeiten und viele Vermittler, aber keine Erfinder. Ein Verlust für das Land der Ingenieure, Dichter und Denker.
Die stärkere Beachtung der Familie wäre also klug. „Eltern haben ihre Familienwilligkeit bereits bewiesen und müssen nicht mit Geldgeschenken über eventuelle Einschränkungen hinweggetröstet werden. Nein, diese Eltern wollen Kinder, übernehmen Verantwortung, klagen nicht, sondern freuen sich über das bunte Leben“, sagt Elizabeth Müller, Vorsitzende des Verbandes Kinderreicher Familien Deutschland. „Wenig treibt die soziale Gemeinschaft mehr auseinander, als wenn die verschiedenen Lebensentwürfe ständig gegeneinander ausgespielt werden. Ein guter Staat sollte dafür sorgen, dass alle ihr Potenzial entfalten können“, sagt Daniela Nagel. „Schließlich gilt die Beziehung zum Kind als die einzig unkündbare in unserer Gesellschaft und die Faszination Großfamilie liegt eben auch darin, dass sie eines der letzte großen Abenteuer unserer Gesellschaft ist.“
Museen: Fast alle klassischen Kölner Museen öffnen ihre Pforten für alle Kölner kostenlos am 1. Donnerstag im Monat. Zusätzlich an vielen unterschiedlichen Tagen freier Eintritt für Kinder.www.museenkoeln.de
Kölner Dom: In die Domschatzkammer und auf den Dom können Familien mit dem Kombiticket: Maximal 2 Erwachsene plus Kinder bis 18 Jahre für 15 Euro.www.dombau-koeln.de
Olympiamuseum: Für Sportbegeisterte 2 Erwachsene mit allen ihren Kindern bis 14 Jahre gibt es das Familienticket für 14 Euro. www.sportmuseum.de
Gürzenich Orchester: An ausgewählten Sonntagen können Eltern und Kinder (8-12 Jahren) den Sinfoniekonzerten lauschen. Die Ohrenauf-Familienkarte gibt es ab 15,40 Euro. Nächster Termin ist der 27. Oktober 2013. www.guerzenich-orchster.de
Schokoladenmuseum: Zwei Erwachsene mit allen eigenen Kindern bis 16 Jahren können für 24 Euro die Welt der Schokolade entdecken. www.schokoladenmuseum.de
Verband Kinderreicher Familien: Die bundesweite Organisation ist die erste, die sich für Familien mit mehr als drei Kindern engagiert. www.kinderreichefamilien.de
Das Buch
Sie Ärmste!“ Das Buch für gelassene Mehrfachmütter erscheint am 1. Dezember bei Schwarzkopf & Schwarzkopf und kostet 9,95 Euro.