Musik-FanGroße Sehnsucht nach Tokio Hotel
Mein Herz beginnt zu hämmern, mein Atem geht schneller. In mir beginnt es zu kribbeln. Mein ganzer Körper steht schlagartig unter Strom, als ich folgende Zeilen lese: " "Kings of Suburbia" - Tokio Hotel's neues Album erscheint am 3. Oktober! Vorbestellungen jetzt!" Fast fünf Jahre habe ich auf diese Worte gewartet. Und plötzlich ist alles wieder da: Meine Gedanken kreisen mehr oder weniger jede Sekunde um "meine Jungs", die Zwillinge Bill und Tom sowie Georg und Gustav. Ich muss jeden einzelnen Zeitungsartikel in mich aufsaugen, um zu begreifen, dass das gerade wirklich passiert.
Im Sekundentakt checke ich Amazon und iTunes, nur um zu schauen, auf welchem Bestsellerrang sich das neue Tokio Hotel-Album befindet. Bevor ich vollkommen durchdrehe, springe ich meiner Mutter in die Arme und ernte erstaunte Blicke; vor allem von Seiten meiner Freunde. "Ich dachte, aus dem Alter bist du mittlerweile raus", lautet der Standardsatz. Aber Tokio Hotel ist für mich mehr als nur eine Band aus einem Zeitabschnitt. Tokio Hotel-Fan sein gleicht einem Lebensgefühl, das mich jetzt schon seit neun Jahren begleitet, fast die Hälfte meines Lebens. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie alles begonnen hat... :
Gerade elf Jahre alt, sitze ich im Sommer 2005 mit meiner besten Freundin im Wohnzimmer. Während wir Diddlblätter tauschen, läuft nebenbei im Fernsehen Viva. Während sie schon immer Charts gehört hat, habe ich mich lieber Musik von Rolf Zukowski gewidmet. Aber als sie ganz aufgeregt sagt: "Guck mal, das ist diese neue Band, die musst du dir ansehen!" , starre auch ich gebannt auf den Fernseher. Wir gucken das Video von "Durch den Monsun" gefühlt den ganzen Tag, denn MTV und Viva zeigen es nahezu in Dauerschleife. Anfangs irritieren mich Bills mädchenhelle Stimme und seine geschminkten Augen. Ich ahne nicht, dass ich ihnen später hoffnungslos verfallen werde. Einige Wochen später, ich hatte Tokio Hotel schon fast vergessen, sehe ich gemeinsam mit einer anderen Freundin die Viva-Award Verleihung "Comet", mit einer Sondersendung zur Band.
Die vier Musiker aus Magdeburg, unwesentlich älter als ich, ziehen mich vollkommen in ihren Bann. Am nächsten Morgen tausche ich Pferdeposter gegen Tokio Hotel-Poster aus. Ab jetzt heißt es, mein ganzes Taschengeld in Teeniemagazine wie Bravo, Yam, Popcorn oder Starflash zu stecken. Einfach nur lesen reicht nicht, ich brauche jeden noch so kleinen Artikel der Band, jedes Poster, das ich kriegen kann. Schon bald habe ich sechs Ordner voll und keinen Platz mehr an meinen Wänden.Tokio Hotel werden mein Lebensinhalt. Nie werde ich den Moment vergessen, in dem Bill während eines Konzerts in Frankreich 2008 seine Stimme verliert und an den Stimmbändern operiert werden muss. Die Angst, dass es jetzt zu Ende geht.
Während meine Schulfreundinnen nach und nach die Lust an Tokio Hotel verlieren, werde ich immer fanatischer. Im Internet suche ich Kontakt zu anderen Fans, die meine Leidenschaft, fast schon Besessenheit, teilen. Ein irrer Moment: Die Fanparty "Drei Jahre Tokio Hotel" 2008 am Rudolfplatz in Köln, wo ich mit rund 500 Fans zu den Liedern abrocke, als wäre die Band live vor Ort. Mein erstes Konzert erlebe ich erst 2009, als mich meine Eltern mit 15 Jahren endlich für alt genug befinden, hysterisch-kreischenden Mädchenmassen standzuhalten. Es ist eines meiner schönsten Erlebnisse aus der Zeit: Ein exklusives Konzert vor nur 1000 Fans mit anschließender Autogrammstunde. Das Foto von Bill, auf dem er nur für mich lächelt, hüte ich heute noch wie einen Schatz.
Ein Fantreffen mit Fans aus ganz Deutschland jagt das nächste, Tokio Hotel schaffen es in allen Ländern auf Platz eins der Charts. Am Zenit ihrer Karriere der große Knall: Ausgelaugt legen die Jungs eine Pause ein, die Zwillinge ziehen nach Los Angeles. Fassungslosigkeit bei mir. Gemeinsame Tokio Hotel-Abende mit Live-DVDs helfen nicht weiter. Es wird stumm um die Band. Nach und nach hänge ich meine Poster ab, lege nur noch selten meine heiß geliebten Alben auf, werde erwachsener. Glaubte ich. Bis es Anfang 2013 offiziell heißt: Die Kaulitz-Zwillinge suchen Deutschlands neuen Superstar! Absolut kein Fan dieser RTL-Castingshow hänge ich doch tatsächlich jede Woche aufs Neue in der Karten-Hotline, um live dabei sein zu können! Zweimal bekomme ich die heiß begehrten, überteuerten Karten. Was dort abgeht, ist für Außenstehende so schwer nachzuvollziehen! Das ausverkaufte Studio ist jedes Mal zum Platzen voll mit Fans aus der ganzen Welt. Band-T-Shirts werden verboten, es soll ja um die Kandidaten gehen, nicht um Tokio Hotel. Massenhysterie am Ende der Sendung, alle wollen wir unseren Idolen so nah sein.
Einmal schaffe ich es nach ganz vorne und ergattere als eine der wenigen ein Autogramm von Bill! Meine Teenie-Phase hat mich wieder. Ich bin wieder süchtig. Meine Freundin Melanie und ich werden immer wahnwitziger, was unsere Aktionen betrifft. Als auf Ebay das Motorrad versteigert wird, das während der letzten Tour als Bühnenrequisite genutzt wird, schaffen wir es, den Besitzer ausfindig zu machen und fahren hin. Einmal auf diesem Motorrad sitzen, koste es was es wolle. Ich kann unser Glück nicht fassen, als er mit uns kurzerhand ein Fotoshooting auf dem Motorrad macht! Persönlich mit der Band reden konnte ich leider noch nie.
Einen Kindheitstraum verwirkliche ich mir im April dieses Jahres, als ich einen Abstecher in das rund 30 Kilometer von Magdeburg entfernte verschlafene Nest Loitsche fahre, wo Bill und Tom aufgewachsen sind. Ein Pilgerort für Fans. Mitten im Nichts, zwischen Rapsfeldern und Wiesen begreife ich, was sie geschafft haben. Vom Ende der Welt aus haben sie die Welt erobert.
Und jetzt kommen sie zurück, um sich die Welt zurückzuholen. Das neue Album erscheint in weniger als vier Wochen, meine Band-Shirts und Pullis sind schon aus dem Schrank gekramt, über Fahrgemeinschaften zu Konzerten wird schon heiß diskutiert. Auf geht's Tokio Hotel: Ich bin sowas von bereit!