Siezen vs. DuzenAls ich plötzlich Sie wurde
Ich bin jetzt auch in diesem Alter. Dass es so schnell kommen würde, habe ich nicht geahnt. Ich dachte ich hätte noch Jahre Zeit, vielleicht sogar ein ganzes Jahrzehnt. Aber Pustekuchen!
Kürzlich ist es das erste Mal passiert: Ich stand ganz entspannt da und wartete auf eine Freundin, als ein junger Typ auf mich zukam. Ungefähr mein Alter, vielleicht ein, zwei Jahre älter, sympathisches Lächeln. Sympathisch – das verflog schnell als er den Mund aufmachte und folgenden Satz aussprach: „Entschuldigung, wissen Sie vielleicht wo hier der Bahnhof ist?“
Bahnhof war ein gutes Stichwort – ich war perplex, vor den Kopf gestoßen: SIE?! Für wie alt hielt dieser Typ mich? 30? Bevor ich mich versah, ging mir schon folgender kluger Satz über die Lippen: „Ehm…Sie dürfen ruhig du zu mir sagen. Ich glaube wir sind gleich alt.“
Klasse! Wir waren also jetzt per du. Also er mit mir. Und ich mit ihm per Sie. „Und… da lang!“ warf ich ihm noch schnell zu, bevor ich mich umdrehte und das Weite suchte. Ich wollte die Wartezeit nun lieber nutzen, um mir meine erste Anti-Falten-Creme zu kaufen. Dieser Vorfall ließ mich auch Stunden später noch nicht los.
Natürlich war es nicht das erste Mal, dass ich gesiezt wurde. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Tag in der Oberstufe. Vor den Ferien war ich noch Tanja gewesen, plötzlich sprachen mich Lehrer, die mich seit der fünften Klasse kannten, mit Frau Karrasch an. Das war natürlich ungewohnt, aber irgendwie auch cool.
„Ihr seid jetzt eben auch erwachsen“, erklärten uns die Lehrer. Genauso lief es bei der professionellen Zahnreinigung. Zweimal im Jahr behandelt mich dieselbe Frau und das, seit ich acht Jahre alt bin. Immer war es so: Ich siezte sie, sie duzte mich. Sie war erwachsen, ich ein Kind – alles klar.
Bis zu dem Tag, als ich gerade 18 geworden war: Aus dem Nichts siezte sie mich plötzlich. Ich habe mich bis heute nicht daran gewöhnt. Zuerst habe ich mich gewundert, ob sie vielleicht vergessen hatte, dass wir uns kannten und ich schon seit Jahren ihre Patientin war, gesagt habe ich aber nichts. Ich denke sie macht das grundsätzlich so: Ab 18 wird gesiezt.
Aber wenn ich jetzt also im Sie-Alter angekommen bin und ältere Menschen mich duzen, darf ich dann zurückduzen? Oder darf der jeweils ältere Mensch in einer Gesprächssituation immer vorgeben, ob er mich duzt, ich ihn sieze, wir uns beide siezen oder beide duzen? Und wenn ja, wie kann man das immer wissen? Fühlt der ältere Mensch sich vielleicht eher geschmeichelt, wenn ich mich auch traue, ihn ebenfalls mit Du anzusprechen, oder findet er es unverschämt?
Trotzdem finde ich es normaler, von Lehrern, Ärzten oder Verkäuferinnen gesiezt zu werden als von Gleichaltrigen. Manchmal kommt auch beides zusammen: Wenn ich irgendwo an einer Kasse stehe, sagt die Kassiererin in meinem Alter wahrscheinlich auch: „Haben Sie alles gefunden?“ Und ich antworte: „Ja danke, und Ihnen noch einen schönen Feierabend.“
Das gehört sich dann wohl so, wir unterhalten uns schließlich nicht privat. Trotzdem fühlt sich das irgendwie albern an. Als würden wir nur erwachsen tun, wie früher beim Spielen mit dem Kaufladen: „Also ich wäre jetzt die Frau Müller, und du wärst die Frau Meier, und ich würde bei dir Äpfel kaufen.“
Damals erschien ein Sie das Nonplusultra des Erwachsenwerdens zu sein, und erwachsen zu sein erschien uns damals ziemlich cool. Heute möchte ich lieber noch ein paar Jahre beim Du bleiben.
Das mag auch daran liegen, dass ich Studentin bin. Hätte ich nach meinem Abitur beispielsweise eine Ausbildung bei der Bank gemacht, hätte ich mich wahrscheinlich schon längst an das Sie gewöhnt. Aber das habe ich nicht. Ich trage nicht gerne Blazer, ich bevorzuge Sneakers vor Pumps und ich sage lieber Du als Sie.
Natürlich kann man sich auch fragen, ob das Gesieze nicht generell ziemlich überflüssig ist. In Amerika oder England kommen die Menschen schließlich auch ohne Sie-Form aus. Dort wird anderen Respekt gezollt, indem man sie mit Mr. oder Mrs. anspricht. Im Deutschen wäre das sehr merkwürdig: „Frau Müller, würde es dir etwas ausmachen, das Fenster zu schließen?“
Verwirrend genug finde ich schon die Mischform Vorname plus Sie. „Tanja, können Sie mal eben kommen?“ Dennoch würden dann viele unangenehme Situationen wegfallen. Einige davon möchte ich Euch (oder soll ich besser Ihnen sagen?) vorstellen:
Das Du-Sie-Hin-und-Her – sehr unangenehm. Das entsteht meistens, wenn zwei Personen eher sporadisch im Kontakt stehen. Anfangs hatte man sich gesiezt, dann wurde irgendwann das Du angeboten. Beim nächsten Treffen ist man sich nicht mehr sicher, ob der andere sich noch daran erinnert, deswegen versucht man es mal vorsichtshalber lieber wieder mit Sie. Der andere ist verwirrt, siezt zurück. Im Laufe des Abends tastet man sich langsam vorwärts: „Entschuldigen Sie, aber waren wir nicht eigentlich beim Du?“ Der andere ist erleichtert: „Ja stimmt, natürlich können Sie, ich meine kannst du Du sagen.“
Um diesem Wirrwarr zu entgehen, ist eine beliebte Taktik das gänzliche Vermeiden der direkten Anrede. Das führt allerdings meistens zu ziemlich einsilbigen und unpersönlichen Gesprächen. Beispiel: Zwei Menschen unterhalten sich: „Hallo, wie geht’s?“ „Gut und selbst?“ „Auch gut! Wir fahren bald in Urlaub!“ „Wie lang?“ „Drei Wochen. Auch schon Urlaub geplant?“ „Nee, wir bleiben zu Hause.“ „Gerade erst umgezogen, richtig?“ „Genau, da ist das Geld erst mal knapp.“ „Verständlich. Aber schöne Wohnung gefunden?“ „Ja.“ „Schön.“
Eigentlich hätte die eine Person die andere vielleicht gerne zu einer Wohnungsbesichtigung eingeladen, wusste aber leider nicht, wie sie diese Einladung bei der krampfhaften Vermeidung einer Anrede aussprechen sollte.
Der ganze Heckmeck entsteht nur, um nicht in das Du-Sie-Fettnäpfchen zu treten und zurecht gewiesen zu werden: „Für dich immer noch Sie, danke!“ Nein, in diese Situation möchte wohl keiner gerne kommen.
Das Sie macht unsere Kommunikation komplizierter. Es gibt natürlich auch Momente, in denen es uns hilft. Im Job beispielsweise ist es per Sie vermutlich einfacher, einem Kollegen oder einer Kollegin distanziert und respektvoll die ehrliche Meinung zu sagen.
Aber dass 20-Jährige sich verkrampft untereinander siezen, das ist doch albern! Noch wird sich wohl keiner von uns auf den Schlips getreten fühlen, wenn er von einem Gleichaltrigen mit Du angesprochen wird. Also machen wir uns locker und duzen wir drauf los!