Überlebende berichtenDer Untergang der Titanic vor 100 Jahren (Archivtext von 2012)
Köln – In meine Kabine strömte eisige Luft...Sie schien aus einer klammen Gruft zu kommen. Ich hatte den gleichen Geruch in einer Höhle am Eiger-Gletscher wahrgenommen. Plötzlich war die Erinnerung an die Bergtour so überwältigend, dass ich nicht einschlafen konnte. Ich blieb in meiner Koje liegen, bis es so kalt wurde, dass ich aufstand und das elektrische Heizgerät anstellte. Es verbreitete einen fröhlichen roten Glanz, und die Kabine war bald gemütlich warm. Aber ich lag da und wartete. Die modrige Kälte hatte mich nervös gemacht. Plötzlich fühlte ich ein Zittern unter mir. Überrascht von der Bewegung sprang ich auf, legte mich aber gleich wieder hin. Was sollte schon auf die diesem mächtigen Schiff passieren!“
Dies schreibt die 40-jährige Gouvernante Elizabeth W. Shutes in der Nacht des Untergangs. Minuten später trommelt eine Freundin Shutes aus ihrer Koje: „Komm schnell in meine Kabine. Ein Eisberg ist gerade am Fenster vorbeigeschwommen. Ich glaube, wir sind gerade mit einem zusammengestoßen.“ Etwa zweieinhalb Stunden nach diesen Szenen werden die Gouvernante Shutes, ihr Schützling Margaret Graham, 19, und deren Mutter im Rettungsboot Nummer 3 Zeuginnen des Unfassbaren: Das damals größte Schiff der Welt gleitet in der sternenklaren Nacht des 15. April 1912 um 2 Uhr 20 ins Meer hinab, die Wasseroberfläche ist so glatt wie ein Spiegel. Etwa 15 bis 20 Minuten lang hören die Geretteten die Schreie von Hunderten Ertrinkender im eiskalten Wasser, erleben die Verzweiflung der Menschen, die ein Rettungsboot zu entern versuchen. In ihrem Boot mit Platz für 65 Personen sitzen nur 32.
Offiziere behaupten, Titanic sei selbst ein Rettungsboot
Weitere Frauen, die zum Einsteigen bereit wären, sind nicht in Sicht. Einige mochten sich nicht von ihren Männern trennen. Sieben Stockwerke hoch über dem dunklen Wasser in eine Art Nussschale zu steigen, erfordert viel Mut, zumal Offiziere behaupten: „Dieses Schiff ist selbst ein Rettungsboot und kann nicht untergehen.“ Die letzten drei Stunden des Schiffs, die später weltweit die Menschen erschütterten, stellt am eindringlichsten der Autor Wolf Schneider in dem Buch „Mythos Titanic“ dar. Schneider hielt sich – im Gegensatz zu Filmemachern und anderen Autoren – strikt an Quellen, weil sie von keiner Fantasie übertroffen werden könnten: „Etwas zu erfinden, lohnte sich nicht – so unglaublich ist das, was in jener Schreckensnacht des Jahres 1912 wirklich geschah“, sagt er.
In den Worten eines Augenzeugen klingt das so: „Die Titanic hinterließ uns etwas, das wir gern für immer vergessen würden, die Schreie unserer vielen hundert Mitpassagiere, die im eisigen Wasser um ihr Leben kämpften“, wie der englische Schulrektor Lawrence Beesley in seinen Memoiren schreibt.Zwei Stunden nach dem Untergang wurden er und die anderen 711 Überlebenden an Bord des Dampfers Carpathia gehievt. Für 1490 Menschen war das schwimmende Palasthotel da bereits zum Sarg geworden. Als am 1. September 1985 die Kameraschlitten des US-Forschungsschiffs „Knorr“ die ersten Bilder vom versunken Schiff aufzeichnen, gibt es von ihnen keine Spur mehr. „Die Bakterien der Tiefsee haben die Leichen still und gnädig beseitigt“, sagt der amerikanische Meeresbiologe Robert Ballard, der seit 1973 davon geträumt hatte, die Titanic zu finden.
Das Drama um die „Königin der Meere“ bleibt allgegenwärtig
Über die Erinnerungen der Gouvernante Miss Shutes, ausführlich im offiziellen Untersuchungsbericht der britischen Regierung über den Untergang dokumentiert, sind fast 100 Jahre hinweggefegt, aber das Drama um die „Königin der Meere“ bleibt allgegenwärtig. „Wir betreiben fieberhafte Ausbeutung einer von Gott gesandte Sensation“, behauptet der britische Schriftsteller Joseph Conrad schon wenige Tage nach der Katastrophe. Das Ferne, das Irreale jener Nacht, wird auch deshalb immer wieder lebendig, weil über Jahrzehnte neue Gerüchte und eine undurchsichtige Informationspolitik der Reederei es fast unmöglich machen, ein klares Bild vom Ablauf des Dramas zu bekommen. Noch 1985 behauptet die Nachrichtenagentur AP, die Titanic sei dem „Blauen Band“ nachgejagt, wollte also einen Schnelligkeitsrekord aufstellen, und 1986 wird heftig darüber debattiert, ob das Heck über oder erst unter Wasser abgebrochen sei.
Bis heute entsetzt das Unglück die Menschen
Eine Welle des Entsetzens und der tiefen Zweifel überspülte nach der Katastrophe die westliche Welt, sie hat sich bis heute nicht ganz geglättet, wie Dutzende jüngster Veröffentlichungen dokumentieren. Tausende von Schiffen sind untergegangen und bald vergessen worden, bei einigen Unglücken waren mehr Tote zu beklagen. Aber es war das als unsinkbar gepriesene Schiff, seine Havarie erschütterte den Glauben an den Fortschritt, sie wurde zum Inbegriff für menschliche Hybris. Joseph Conrad beklagt den Bau des Luxusdampfers, „um albernen Individuen zu gefallen, die mehr Geld in der Tasche haben, als sie ausgeben können“. Tatsächlich waren vier Milliardäre und einige Millionäre an Bord, die fast alle ihr Leben ließen. „Hinterher wimmelte es von Fingerzeigen, Verfilmungen und Gerüchten“, heißt es in der Komödie „Der Untergang der Titanic“ von Hans Magnus Enzensberger 1978.
Enzensberger kannte wohl nicht den Roman „Futility“ (Sinnlosigkeit) des Amerikaners Morgan Robertson, 1898 erschienen und erst 1997 unter dem Titel „Titan – Eine Liebesgeschichte auf hoher See“ ins Deutsche übertragen. Der frühere Bootsmann schildert das Schicksal des Schiffs „Titan“, das in Größe und Passagierzahl der Titanic ähnelt und wie sie im Atlantik nach der Kollision mit einem Eisberg versinkt. Auch auf der „Titan“ gibt es – wie auf allen Schiffen jener Zeit– zu wenige Rettungsboote. Die Erstauflage verkauft sich schlecht, nach dem Titanic-Unglück erhält der Titel den Zusatz „Das Wrack der Titan“– und es geht weg wie warme Semmeln. Robertson genießt seither überdies den Ruf eines Hellsehers.
Zum 100. Jahrestag des Untergangs boomt das Geschäft wie nie zuvor. Am 8. April 2010 wird die „Balmoral“ in Southampton in See stechen, um mit 1309 Passagieren der Route des Unglückschiffs zu folgen mit Zwischenstation in Cobh in Irland, das 1912 noch Queenstown hieß. Der Hafen von Cherbourg bleibt ausgespart. Von Cobh nimmt der Luxus-Liner Kurs auf New York, um am 15. April an jener Stelle, wo das Schiff in den eisigen Fluten des Atlantik versank, einen Gedenkgottesdienst abzuhalten. Die Katastrophen-Tour zu Preisen zwischen 5000 und 13000 Euro war kurz nach Bekanntgabe im April 2009 ausgebucht. Der britische Veranstalter Morgan Miles bietet inzwischen eine zweite Tour mit identischem Programm: Titanic-Menüs, Vorträge von Experten, Bälle im Stil der Belle Epoque und ein modernes Spa-Programm.
Mehr als 3000 Bücher beschäftigen sich mit der Titanic
Im Jahr des traurigen Gedenkens wird auch wieder eine Menge von Reliquien, Artefakte genannt, die Auktionshäuser überschwemmen – angefangen von Briefen auf Titanic-Papier über Fotos, Lagepläne, Zeichnungen der Sitzordnung in Restaurants bis zu Schwimmwesten. Bei Christie’s in London, wo zwei von sechs angeblich noch existierenden Rettungswesten zu umgerechnet 100.000 Euro pro Stück verkauft worden sind, überprüft man akribisch die Herkunft solcher Offerten. „99 Prozent sind Reproduktionen“, betont der Spezialist für Maritimes, Gregg Dietrich.
Je länger der Untergang zurückliegt, desto größer scheint die Faszination. Das belegen mehr als 3000 Bücher, über 50 (Dokumentar-) Filme, ein Broadwaystück und einige Musicals. Ein Dutzend Titanic Gesellschaften in aller Welt spüren unermüdlich der größten Legende der Schifffahrt nach. Der mit elf Oscars überhäufte Film von James Cameron beflügelte 1997 die Fantasie einer jungen Generation, die in Deutschland bei Titanic allenfalls an das Satire-Magazin dachte. Die Liebesschnulze, von der Kritik verrissen, berührte Millionen von Zuschauern.
Die Entdeckung des Wracks 1985 und die ersten Bergungen zwei Jahre später, die großen Ausstellungen in Memphis (USA) und Hamburg 1997 hingegen befördern einen kommerziellen Fetischzauber ohnegleichen, aber wecken auch die Neugier von Menschen, die zum ersten Mal dem Phänomen Titanic verfallen. Der magische Ort liegt zwar fast 500 Kilometer südlich von Neufundland und 3800 Meter tief im Atlantik, aber in Europa möchten gleich drei Städte vom versunkenen Glanz profitieren: Belfast in Nordirland, die englische Hafenstadt Southampton und der Hafen von Cork, Cobh in der irischen Republik. In Cobh, von wo aus mehr als 2,5 Millionen Iren in die USA oder nach Australien ausgewandert sind, führt ein Pfad zu den Plätzen und Häusern, die die Auswanderer vor ihrer Ausreise aufsuchten. Das kleine Heimatmuseum enthält einige Erinnerungsstücke an die Titanic, auf der etwa 120 Iren in der dritten Klasse reisten.
In Addergoole läuten jeden Tag zum Gedenken die Glocken
Belfast, wo 4000 Männer die Titanic auf der Werft Harland & Wolff bauten, wetteifert mit Southampton, Starthafen der verhängnisvollen Reise und Wohnort vieler Besatzungsmitglieder, um den Titel der Titanic-Stadt. Belfast will im April „die größte Titanic-Ausstellung der Welt“ eröffnen, zur gleichen Zeit Southampton das größte Museum mit 4000 Artefakten. Beide Städte hoffen mit diesen millionenschweren Projekten scharenweise Touristen anzulocken. In Belfast können schon seit Monaten Besucher auf den Spuren der Titanic wandeln und im „Europa“-Hotel, in der Titanic-Suite mit gefrostetem Glas und nachgemachten Erinnerungsstücken des Dampfers schlafen – zu etwa 450 Euro die Nacht.
Wie alle Iren, die die RMS Titanic (Royal Mail Ship) betraten, hatten auch die 14 Passagiere aus dem Dorf Addergoole in der Grafschaft Mayo die dritte Klasse gebucht. Nur drei junge Frauen überlebten, weil sie ans Oberdeck gelangten. Die meisten Menschen vom Zwischendeck schafften es nicht. Schuld daran war die Verschachtelung der kilometerlangen Korridore mit einem komplizierten System von Treppen, Aufzügen und Absperrungen. Nur Eingeweihte konnten die strikte Trennung der drei Klassen überwinden. Außerdem versäumten Stewards, die Menschen aus unterschiedlichen Nationen zu informieren. Die schwierige Verständigung mit Passagieren aus mindestens zehn Ländern und deren Schiffsunerfahrenheit haben die Probleme noch potenziert. Die Leute von Addergoole tröstet es, dass nach dem Desaster Schifffahrtssicherheit und Seenotrettung Priorität vor Luxus und Glamour hatten. Denn die oft beklagte geringe Zahl an Rettungsbooten auf der Titanic hatte den Vorschriften entsprochen.
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In Addergoole pflegen die Bürger auf rührende Art die Erinnerung an ihre Vorfahren. Sie haben die Häuser der Passagiere restauriert und sie lassen seit 1937 am 15. April um 2 Uhr 20 eine Glocke läuten – ohne die Zeitverschiebung zu berücksichtigen. Ganz bewusst sollen die Einwohner nachts aus dem Schlaf gerissen werden, wenn sie sich nicht bei der Glocke eingefunden haben zur gemeinsamen Trauer. Erst ertönt das düstere Geläut für die elf Toten, dann ein fröhliches Gebimmel für die drei geretteten Frauen.