Zu alt, zu weiß und sexistischWarum sich die Grammys dringend ändern müssen
- Billie Eilish ist die erste Künstlerin seit 40 Jahren, die in allen vier Hauptkategorien gewonnen hat.
- Trotzdem rumort es hinter den Kulissen der Grammys, denen vorgeworfen wird, zu alt, zu männlich und zu weiß zu sein.
- Ein Kommentar zur Gala, bei der Gastgeberin Alicia Keys die Missstände nur sehr dezent anklingen ließ.
Los Angeles – Der Weg ins Paradies ist nicht weit, zumindest nicht für mich. Sang Christopher Cross vor 40 Jahren in seinem Hit „Sailing“. Christopher wer? Viele werden sich wohl nicht mehr an den Singer-Songwriter mit der gemütlichen Figur erinnern. Sicher nicht Billie Eilish, die erst vergangenen Monat ihren 18. Geburtstag feiern konnte.
Doch der sanfte Yacht-Rocker war bis zur Nacht auf den Montag der einzige Künstler, dem es jemals gelungen war, in einem Jahr die vier wichtigsten Grammy Awards zu gewinnen: „Song des Jahres“, „Aufnahme des Jahres“, „Bestes Album“ und „Bester neuer Künstler“. Bis eben jene Billie Eilish, deren selbst gemachter, gruftiger Elektropop der Soundtrack des Jahres 2019 war, Cross’ 40 Jahre alten Rekord einstellte: Sie räumte am Sonntagabend im Staples Center in Los Angeles nicht nur die vier erwähnten Preise ab, sie war auch die erste Frau, der das gelang. Und die jüngste Grammy-Gewinnerin in der 61-jährigen Geschichte des immer noch wichtigsten Musikpreises der Welt.
Das sind gute Nachrichten. Sahen sich die Grammys nicht zuletzt immer stärker mit den Vorwürfen konfrontiert, zu alt, zu männlich und viel zu weiß zu sein? Für alle anderen scheint der Weg ins Paradies nämlich weit: Im Zeitraum zwischen 2013 und 2019 waren nur 10 Prozent aller nominierten Künstler weiblich. Ein Skandal. Und die Erinnerung an die Reaktion des ehemaligen Präsidenten der ausrichtenden Recording Academy, Neil Portnow, ist noch frisch: Die Frauen müssten sich halt mehr anstrengen, lautete dessen aalglatte Entgegnung. Aber jetzt ist alles gut, oder? Neben Billie Eilish' Triumph waren diesmal auch schwarze, queere Künstler wie Lizzo (acht Mal) und Lil Nas X (sechs Mal) nominiert, auch wenn beide letztendlich nur in Nebenkategorien gewannen. Ariana Grande, die sich vergangenes Jahr im Streit von der Gala zurückgezogen hatte, durfte endlich ihren überfälligen Auftritt absolvieren.
Das könnte Sie auch interessieren:
Und dem einstigen HipHop-Schmuddelkind Tyler, the Creator gebührt die Krone für die denkwürdigste Showeinlage. Nein, nicht wegen Tylers blonder Bubikopf-Perücke oder den Dutzenden Tyler-Klonen, die bald die Bühne bevölkerten. Und auch nicht wegen der willkommenen Gastauftritte von Boyz 2 Men und dem ehemaligen Sänger der Gap Band, Charlie Wilson. Sondern wegen des Moments, in dem die Kamera in die Schräge kippte, das Bild zu wackeln begann wie beim Photonen-Beschuss in einer alten Raumschiff-Enterprise-Folge und die Kulissenhäuser hinter Tyler Feuer fingen. Womit der einstige Kopf der Rap-Gang Odd Future sehr eindrücklich sichtbar machte, was hinter den Kulissen bei den Grammys vorgeht und worüber in der Gala beharrlich geschwiegen wurde.
Abgesehen von einigen Bemerkungen, die Gastgeberin Alicia Keys – nachdem sie zuerst auf den Unfalltod des Basketball-Giganten Kobe Bryant eingegangen war, der hier im Staples Center seine größten Erfolge gefeiert hatte – während ihrer Eröffnungsnummer am Klavier fallen ließ: „Lasst mich ehrlich sein, es war eine Höllenwoche“, sagte Keys. „Es ist Zeit für etwas Neues. Wir lehnen die negative Energie ab, wir lehnen das alte System ab. Wir wollen uns in unserer Diversität respektiert und sicher fühlen. Wir wollen mehr Inklusivität.“
Vergewaltigungsvorwürfe und fragwürdige Boni
Die Sängerin spielte selbstredend auf den Medienaufruhr an, der in den Tagen vor der Gala die Gespräche beherrschte: Deborah Dugan, die ein Jahr zuvor von der Recording Academy als Portnows Nachfolgerin eingesetzt worden war, musste vor einer guten Woche wegen angeblichen Fehlverhaltens ihren Stuhl räumen und rächte sich, indem sie zahlreiche Missstände in der Organisation öffentlich machte: Von einer Vergewaltigungsanklage gegen Portnow (der die Vergewaltigung, nicht jedoch den Vorwurf bestreitet), über fragwürdige Boni für ebenso fragwürdige Anwälte bis zu Irregularitäten in den geheimen Gremien, welche die Grammy-Nominierungen festlegen. In denen angeblich Anwälte und Manager von nominierten Künstlern saßen und zum Teil sogar die nominierten Künstler selbst.
Was mehr oder weniger sämtliche Kritiken erklären würde, welche die Grammys nun schon seit Jahren an sich abprallen lassen. Die kommen längst auch von großen Namen wie Drake, Frank Ocean oder Ariana Grande. Taylor Swift schwieg zwar, zog jedoch beredterweise einen geplanten Überraschungsauftritt in letzter Sekunde zurück. Noch spielen allerdings etliche Künstler das Spiel mit, und es sieht aus, als könne das Problem mit ein paar geglückten Nominierungen und Preisen stillschweigend aus der Welt geschafft werden.
Aber das täuscht: Die Enthüllungen von Deborah Dugan sind noch lange nicht widerlegt und werden nach der Show unweigerlich wieder zur Sprache kommen. Wollen die Grammys relevant bleiben, müssen sie sich dringend ändern.