Alles verzocktMechernicher erzählt, wie er durch Glücksspielsucht kriminell wurde
Euskirchen – Harald Mießeler besorgte sich Geld, wie und wo immer es ging. Er bestahl seine Chefin im Altenheim, er brach in Wohnungen ein, knackte Autos und Zigarettenautomaten. Sogar seine Freundin gehörte zu den Opfern. Sie hatte, als sie 18 wurde, 20.000 D-Mark (rund 10.300 Euro) von ihrem Vater geerbt.
„Er war nach einer Schlägerei gestorben, sie kam ins Heim – und ich habe sie beklaut“, sagt Mießeler, und man kann sich ausmalen, was er in diesem Moment denkt: Schäbiger geht es nicht. Die 20.000 D-Mark waren schnell verprasst. Am Glücksspielautomaten.
Alles in allem habe er eine Viertelmillion Mark „platt gemacht“, gut 125.000 Euro, erzählt der 54-Jährige im Thomas-Eßer-Berufskolleg in Euskirchen. Mehr als 200 Schülerinnen und Schüler hören dort die Geschichte des Mechernichers, den die Spielsucht, so sagt er, zwölf Jahre seines Lebens gekostet hat.
Der Vortrag Mießelers, der ungeschminkt und ohne Manuskript spricht, steht am Anfang der Präventionsveranstaltung „Glüxxit – wer nicht zockt, gewinnt“. Die Landeskoordinierungsstelle Glücksspielsucht NRW kooperiert dabei mit den Caritasverbänden Euskirchen und Neuss.
Die Organisatoren haben auch Dr. Tobias Hayer engagiert, einen Diplom-Psychologen von der Universität Bremen, der sich seit 19 Jahren mit Glücksspielsucht befasst. Er ergänzt Mießelers Schilderungen in kurzweiliger Form aus wissenschaftlicher Sicht.
„Ich hatte Pech – weil ich am Anfang Glück hatte“
Manche Spielsüchtige hätten ihm den Beginn ihrer Krankheit so erklärt, sagt Hayer: „Ich hatte Pech – weil ich am Anfang Glück hatte.“ Harald Mießeler, der mittlerweile im Publikum sitzt, nickt zustimmend. Er war mit 16 zu Hause rausgeflogen, warf in einer Kneipe zum ersten Mal Geld in einen Automaten und gewann prompt. Im Nu hätten die Geräte ihn beherrscht. Warum? „Wir zocken, weil wir gelobt und belohnt werden wollen“, so Hayer: „Wie das passiert, ist dem Gehirn egal. Entscheidend ist, dass es sich an die Belohnung gewöhnt. Es geht um Emotionen, die man sich am Spielautomaten kauft.“
Mießeler brach drei Tage vor der Abschlussprüfung seine Dachdeckerlehre ab und geriet „auf die kriminelle Bahn“, wie er es formuliert. Alles nur, um seine Sucht finanzieren zu können.
Er war immer wieder arbeits- und eine Zeit lang auch obdachlos. „Trotzdem hatte ich immer Geld zum Zocken. Ich kannte jede Spielhalle zwischen Kall und Duisburg.“ In manchen Monaten haber er bis zu 3000 Mark „verblasen“.
„Die Sucht macht alles kaputt, während die Automatenhersteller Unsummen verdienen. Lasst die Finger von dieser Scheiße“, appelliert der Mechernicher an sein Publikum. Er kam los von der Spielsucht, nachdem seine Schwiegermutter ihn beim Verlassen einer Spielhalle gesehen hatte. Vorher habe niemand in der Familie etwas von seinen Problemen gewusst. „Was machst du eigentlich hier?“, habe er sich gefragt. Das war der Wendepunkt. Er offenbarte sich seiner Frau, suchte Hilfe bei der Caritas und ging zur Polizei, um Einbrüche und Diebstähle zu gestehen.
Schulden abbezahlt
Bei den Opfern seiner Straftaten habe er seine Schulden abbezahlt. Dies sei möglich gewesen, weil sein Bruder ihm einen größeren Betrag geliehen habe und andere Menschen ihn unterstützt hätten. Zum Beispiel die Kollegen in der Fabrik, in der er seit 1989 arbeitet.
Heute ist Mießeler froh, ein „stinknormales Leben“ führen zu können. „Mit der Spielsucht habe ich nichts mehr zu tun. Ich bin einer der wenigen, die an die Öffentlichkeit gegangen sind, um andere zu warnen.“
Seit vielen Jahren hält er Vorträge, meistens in Schulen. Der Auftritt im Berufskolleg war der 53. dieser Art. „Haben Sie auch mal richtig viel gewonnen?“, fragt ein Schüler. „Ja. Einmal habe ich den Automaten leer gespielt“, sagt Mießeler. Den Ertrag, 2000 D-Mark, habe er gleich verjubelt.
Verborgene Sucht
Dass Mießelers Krankheit lange im Dunkeln blieb, sei typisch, erklärt Tobias Hayer. Man spreche von einer „hidden addiction“, einer verborgenen Sucht. „Junkies und Alkoholiker fallen irgendwann auf, die Zocker dagegen führen ein Doppelleben und sind gute Schauspieler – das ist das Besondere und Fatale zugleich.“
Was mit Spaß und Spannung beginne, schlage schnell um in Überschuldung, Elend, Schamgefühle und Selbstmordgedanken, so der Experte, der die Zahl der Spielsüchtigen in Deutschland auf eine halbe Million schätzt. „Nur zehn Prozent davon nutzen Beratungsangebote.“