„Kind der Schande“Wie die Nazis in Euskirchen Kinder sterilisierten
Euskirchen – Willi B. gehörte zu den „Rheinlandbastarden“. So wurden – abwertend – schon in der Weimarer Republik Kinder und Jugendliche genannt, deren Vater ein französischer Besatzungssoldat aus einem Kolonialstaat war. Geboren wurden diese Kinder in der Zeit von 1919 bis 1930 während der französischen Besetzung des Rheinlandes. Die meisten von ihnen waren unehelich.
So steht es in einer Darstellung des Euskirchener Stadtarchivs, das auch das kurze Leben des Willi B. nachgezeichnet hat. An diesem Dienstag steht der Euskirchener im Mittelpunkt des Beitrags „Sie nannten sie die Kinder der Schande“, den der deutsch-französische Fernsehsender Arte von 22.45 Uhr an ausstrahlt.
Euskirchener Rolf Müller erzählt Willi B.s Geschichte
Darin erzählt der frühere Euskirchener Rolf Müller, der heute in Essen lebt, als Zeitzeuge über Willi B., der am 29. Juli 1923 in Euskirchen als unehelicher Sohn der Metallarbeiterin Katharina B. und eines unbekannten französischen Kolonialsoldaten asiatischer Herkunft zur Welt kam.
Schon zu jener Zeit wurden Frauen wie Katharina B. als Verräterinnen deutscher „Rassenehre“ diffamiert. Bereits 1923 begannen Regierungsstellen mit der Erfassung der „Rheinlandkinder“, wie sie auch genannt wurden. 1934 hieß es in einer Stellungnahme das nationalsozialistischen Reichsinnenministeriums: „Die von farbigen Besatzungssoldaten mit deutschen Frauen und Mädchen gezeugten Mischlinge sind eine ernste Gefahr und tragen zur rassischen Verschlechterung der deutschen Bevölkerung bei. Empfohlen wurde eine „Unfruchtbarmachung der Mischlinge, die bald fortpflanzungsfähig werden“. Die Umsetzung des Programms begann 1937. Weit mehr als 400 Kinder wurden sterilisiert.
Katharina B. hatte ihren Sohn schon bald nach dessen Geburt in das von Kölner Vinzentinerinnen geleitete städtische Waisenhaus in Euskirchen gegeben. Dort blieb er zunächst auch, als seine Mutter mit einem tschechischen Witwer, den sie geheiratet hatte, 1928 in dessen Heimat zog.
Dann holten ihn seine Großeltern, die in der Malmedyer Straße wohnten, aus dem Waisenhaus. „Willi besuchte einen Kindergarten und ging von 1930 bis 1938 in die Euskirchener Westschule“, heißt es im Bericht des Stadtarchivs.
Amtsarzt änderte Beurteilung nach Gestapo-Richtlinie
Schon im Kindergarten war seine besondere musikalische Begabung aufgefallen, die seine Großeltern während der Schulzeit förderten. Er spielte in einem kleinen Euskirchener Orchester und war überall beliebt.
1935 – seine Mutter war mittlerweile nach Euskirchen zurückgekehrt – urteilte ein Amtsarzt nach einer Untersuchung: „Geistige Veranlagung gut, im übrigen gutmütig, freundlich, leicht lenkbar.“
Der Zeitzeuge
Rolf Müllers Vater Wilhelm war der Geigenlehrer von Willi B. „Deshalb kannte ich Willi schon von Kindesbeinen an“, sagte Müller im Gespräch mit dieser Zeitung. Er sei ein „ganz, ganz lieber Junge“ gewesen. Mittlerweile dürften fast alle allen Zeitgenossen aus Euskirchen gestorben sein, vermutet Müller, der als Geiger Karriere machte. Er war Erster Konzertmeister der Philharmonie Essen. In der Arte-Dokumentation erzählt der 91-Jährige ausführlich über Willi B., auch über dessen Drang, Soldat zu werden: „Er wollte unbedingt eingezogen werden. Wahrscheinlich versprach er sich davon eine Art Rehabilitation.“ Dominik Wesselys Film „Sie nannten sie die Kinder der Schande“ ist auch in der Arte-Mediathek verfügbar. Das Interview mit Müller wurde im März, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, aufgezeichnet. Mit Leben und Tod von Willi B. befasste sich schon in den 1990er-Jahren der Euskirchener Schriftsteller Heinz Küpper (1930-2005), und zwar in „Vorläufige Auskunft über Willi B.“, erschienen in der Sammlung „Hermann Rohr und andere, Erzählungen vom Rand der Biographie“. (ejb)
Mit der Anordnung der Gestapo jedoch, alle Mischlingskinder zu sterilisieren, änderte der Amtsarzt seine Meinung über Willi. In der „Kartei der Erbkranken“ lautete die Charakterisierung trotz Kenntnis der wahren Herkunft: „Bastard, Vater war ein schwarzer Besatzungssoldat.“ Willi B. wurde am 14. Juni 1937 als 14-Jähriger im Marien-Hospital Euskirchen als „Träger minderwertigen Erbguts“ sterilisiert. Dies geschah ohne sein Wissen, so das Archiv: Es müsse angenommen werden, dass die zuständige Kommission eine schriftliche Einverständniserklärung der Mutter „erzielt“ habe. Nach dem Schulabschluss begann Willi 1938 eine Lehre als Karosseriebauer. Die Gesellenprüfung bestand er mit Erfolg. Von seiner Sterilisation muss er bald Kenntnis gehabt haben, „jedenfalls war es auch seiner Schwester bekannt, nicht aber seinen Klassenkameraden und Jugendfreunden“, heißt es in dem Bericht. Willi nahm Unterricht bei dem Euskirchener Geigenlehrer Wilhelm Müller. Willi spielte bei öffentlichen Festen und privaten Feiern, in Festgottesdiensten und bei Konzerten der Casino-Gesellschaft. Er war gesellschaftlich nicht ausgegrenzt, bekam aber mit der Begründung, „kein richtiger deutscher Mann“ zu sein, keine Zulassung zum Wehrdienst – und das mitten im Krieg, da alle Freunde zur Wehrmacht gingen. Doch Willi B. kämpfte darum, Soldat zu werden. Mit Erfolg: Am 23. Juni 1943 begann er seinen Wehrdienst als Freiwilliger in Aachen. Am 26. September 1944 fiel er als deutscher Soldat in Italien. Er wurde nur 21 Jahre alt.