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50 Jahre Kreis EuskirchenViele Branchen, starker Mittelstand, Krisen überstanden

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So sah die Neustraße in Euskirchen in den 70er-Jahren aus.

Kreis Euskirchen – Nach 50 Jahren ist die Wirtschaft des Kreises Euskirchen kaum wiederzuerkennen. Die einstigen Industriestandorte in Euskirchen und der Nordeifel haben sich teils drastisch gewandelt, Handel und Landwirtschaft ebenfalls. Iris Poth ist als Leiterin der Struktur- und Wirtschaftsförderung des Kreises für die wirtschaftliche Entwicklung zuständig. Mit dem Team ihrer Stabsstelle bereitet sie die verschiedenen Branchen auf Strukturwandel, Energiewende und Fachkräftemangel vor.

Welche Branchen haben sich in den vergangenen 50 Jahren gut entwickelt? Welche schlecht?

Poth: Das war im Laufe der Zeit unterschiedlich und in der Regel abhängig von politischen Entwicklungen. Welche Ziele und wirtschaftspolitischen Instrumente konnten sich durchsetzen? Wann gab es eine Rezession? Ende der 60er Jahre zum Beispiel gab es die erste schwere Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Das führte in unserer Region zu hohen Arbeitslosenzahlen, die bis an die zehn Prozent reichten – besonders gravierend war es im Südkreis. Schwer traf es die Branchen Bau, Steine, Erden, aber auch Mechanik, Gummiverarbeitung und die Stahlindustrie. Noch bis in die 70er Jahre hat die Stahlindustrie das Schleidener Tal geprägt. Dann aber ging sie unter und wanderte an attraktivere Standorte ab. Das Gleiche gilt für die Textil- und Tuchmacherindustrie in und um Euskirchen. Stark geblieben hingegen sind der Maschinenbau und die Kunststoffverarbeitung, in gewisser Weise auch die Elektro-Industrie. Diese Branchen haben sich alle technologisch sehr stark verändert und weiterentwickelt. Das Handwerk war immer eine tragende Säule der Wirtschaft. Daneben sind die Dienstleistungen, zum Beispiel die Gesundheitsberufe, stark gewachsen.

Für Politiker wie den ehemaligen Oberkreisdirektor Dr. Karl-Heinz Decker war die Ansiedlung von Großunternehmen wie Procter & Gamble, die Rettung für die angeschlagene Wirtschaft des Kreises. Wie sehen Sie das heute?

Procter & Gamble ist eines der wichtigsten Unternehmen im Kreis. Es gehört zu den Unternehmen mit den meisten Arbeitsplätzen. Dem damals angeschlagenen Arbeitsmarkt hat Procter & Gamble eine Perspektive gegeben. Sie haben aber auch branchenfremde Mitarbeiter aus anderen Unternehmen angezogen.

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Kaum wiederzuerkennen: Wie stark sich die Wirtschaft des Kreises von den 70ern bis heute gewandelt hat, zeigt sich auch an den Geschäften in der Innenstadt.

Das Unternehmen ist global aufgestellt. Als regionales Produktionswerk, als Entwicklungs- und Distributionszentrum für Windeln und Feuchttücher ist es ein bedeutender Arbeitgeber, der für den Kreis unverzichtbar ist. Außerdem hat Procter & Gamble ein Potenzial, das enorm viele Zulieferer an sich bindet. So schafft es auch Arbeitsplätze in und über Subunternehmen. Heute buhlt das Unternehmen mit allen anderen um Fachkräfte, die am Standort aus- und weitergebildet werden.

Nord- und Südkreis

Die Serie zur Kommunalen Neugliederung

Mit dem Aachen-Gesetz, das am 1. Januar 1972 in Kraft trat, wurde das Gebiet des Regierungsbezirks Aachen und des Kreises Euskirchen neu gegliedert. Für die Menschen in den Altkreisen Euskirchen und Schleiden war die Zusammenlegung ein einschneidendes Erlebnis.

Wirtschaft, Natur, Entwicklungsstand – in fast jeder Hinsicht unterschieden sich Nord- und Südkreis damals. Im neuen Kreis trafen zwei Mentalitäten aufeinander, die kaum verschiedener sein könnten. Konflikte zwischen Nordeifelern und Tieflandbewohnern waren programmiert.

Mittlerweile sind 50 Jahre vergangen. Viele Hoffnungen der damaligen Politik haben sich erfüllt, aber auch die Kritiker sollten Recht behalten. In dieser Serie beleuchtet die Redaktion die Neugliederung – immer mit der Zukunft im Blick. Wir haben mit Zeitzeugen und Entscheidern von heute gesprochen, in Archiven und historischen Sammlungen recherchiert.

Im Mittelpunkt der Serie stehen Fragen wie: Sind alte Rivalitäten noch immer ein Thema? Welche unsichtbaren Grenzen gibt es zwischen den Altkreisen? Wie stände ein theoretischer Eifelkreis Schleiden-Monschau heute da? (maf)

Gibt es unbekannte Weltmarktführer, Hidden Champions, im Kreis Euskirchen?

Das NRW-Wirtschaftsministerium hat vergangenes Jahr untersucht, wie viele Hidden Champions es landesweit gibt. Und mit dem Zülpicher Unternehmen Vetter kommt nur ein einziger Hidden Champion aus dem Kreis Euskirchen. Insgesamt wurden 690 identifiziert. Das Ergebnis hat mich ein wenig enttäuscht. Die Kreise und Städte, die eine Hochschule haben, lassen uns da im Schatten stehen. Wir bei der Wirtschaftsförderung sprechen aber auch gerne von Hidden Champions, wenn wir innovative, kleine Unternehmen mit überregionaler Strahlkraft entdecken. Auch im Gründungsbereich traten in jüngster Vergangenheit interessante Unternehmensprofile auf, das Thema Gründung hat bei uns wieder stark angezogen. Daher wollen wir deutliche Ansiedlungsreize für Gründer setzen und haben unsere Beratung ausgebaut.

Was Gewerbeflächen angeht, hat der Kreis ein Platzproblem. Welche Konzepte sollen bei der Lösung helfen?

Die Nachfrage nach Gewerbeflächen ist anhaltend hoch, in den vergangenen beiden Jahren stieg sie sogar deutlich an. Vor allem größere Flächen von etwa fünf Hektar sind gefragt. Im Kreis sind sie aber kaum verfügbar. Umwelt- und Klimaschutz erlangen einen immer höheren Stellenwert. Gewerbe verbraucht vergleichsweise viel Fläche, ist aber wirtschaftlich unerlässlich. Dennoch sollte die Entwicklung nachhaltiger Gewerbegebiete favorisiert werden. Hier gibt es viel Potenzial. Wir können zum Beispiel weniger in die Fläche und mehr in die Höhe bauen. Eine andere Möglichkeit ist das Gewerbeflächenrecycling – Gewerbebrachen werden wieder nutzbar gemacht.

Was würden Sie als größte Stärke des Kreises Euskirchen bezeichnen?

Der Kreis Euskirchen verfügt über eine diverse Branchenstruktur mit einem starken Mittelstand, besonders geprägt durch das Handwerk. Dadurch ist der Kreis branchenunabhängig und weniger krisenanfällig. Weitere Stärken sind der hohe Wohn- und Freizeitwert und die Nähe zu den Ballungsräumen. Auch der Tourismus ist für uns eine besondere Stärke, die allerdings durch Pandemie und Flut sehr stark gelitten hat. Zwar ist das Konzept der Eifelspuren und Eifelschleifen in der Pandemie voll aufgegangen. Was sich aber immer noch zeigt – und durch die Flut nochmal verstärkt hat – ist, dass wir keine gute Bewirtungsstruktur haben. Wir sprechen von Versorgungslücken. Mit Nordeifel Tourismus und Naturpark Nordeifel denken wir zurzeit über Lösungen für das Problem nach, zum Beispiel über Bewirtungsautomaten oder über bewirtete Wanderhütten.

Wie bereitet sich der Kreis auf kommende strukturelle Umbrüche vor?

Der Kreis Euskirchen hat ein neues wirtschaftliches Entwicklungskonzept (WEK) erstellt. Mit ihm soll der Kreis bis 2030 zu einer Modellregion für eine nachhaltige Wirtschaft werden. Ziel ist es, Wirtschaftsentwicklung und die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen zu verbinden und sich so als gutes Beispiel für andere ländliche Regionen zu positionieren.

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Iris Poth

Ein ebenso wichtiges Ziel ist das Gelingen der Energiewende. Wir wollen mit einer kreisweiten Wasserstoffstrategie nicht nur CO₂-Emissionen reduzieren. Auch die mit Wasserstoff verbundenen wirtschaftlichen Chancen wollen wir nutzen, um zukunftsfähige Arbeitsplätze und Wertschöpfung im Kreis zu erhalten und auch auszubauen. Die Chancen ergeben sich aus der Vielfalt der mit Wasserstoff verbundenen Technologien, die entwickelt und produziert werden müssen. Zur zeitnahen Energieversorgung liegen uns aktuell zwei politische Anträge vor. Beide behandelt die Politik Ende August im Fachausschuss für Wirtschaftsförderung. In den Anträgen geht es darum, wie sich Windkraft- und Photovoltaikausbau entwickelt haben und welche Ausbaupotenziale es gibt. Außerdem geht es darum, wie die Energieversorgung im Herbst sichergestellt werden kann. Mit energieintensiven Unternehmen tritt die Wirtschaftsförderung in Kontakt und bietet ihnen Fördermöglichkeiten. Dazu gehört zum Beispiel eine Transformationsberatung, die Vermittlung von Experten der Energieeffizienagentur NRW oder die von Partnern auf Bundesebene.

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Unerlässlich ist dabei ein enger Austausch mit dem Energieversorger e-regio. Eines der ersten Schlüsselprojekte aus dem WEK soll –spätestens in 2023 umgesetzt – ein Sustainable Innovation Hub Euskirchen werden. Er soll das zentrale Element sein, um Unternehmen während ihrer nachhaltigen Transformation zu begleiten. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, versuchen wir im Moment mit dem BZE (Berufsbildungszentrum in Euenheim), Fördergelder des Rheinischen Reviers zu akquirieren. Mit diesen soll ein Bildungscampus in Euskirchen verwirklicht werden. Der Trend zur Akademisierung in der beruflichen Bildung ist verbunden mit rückläufigen Ausbildungszahlen und steigendem Fachkräftemangel. Das macht die Entwicklung von Lernorten für integrierte berufliche und akademische Bildung erforderlich, wie sie etwa ein Duales Studium bietet. Aber wir wollen nicht nur Ausbildung fördern, sondern auch die Weiterbildung vorantreiben. Unser Bestand an Arbeitskräften soll ebenfalls profitieren.