Walid Kazmouz kam im Herbst 2015 wegen des Bürgerkriegs in Syrien nach NRW – und war jahrelang von seiner Familie getrennt.
Ankommen – Die SerieWie ein geflüchteter Syrer in Kall für seine Familie kämpfte
Walid Kazmouz ist ein unauffälliger Mann. Dunkle Augen, freundliches Gesicht, über dem Hemd trägt er einen Pullover. Von seinem Wohnzimmer aus hat er einen guten Blick über Kall. Den Ort, von dem er bis vor wenigen Jahren nicht einmal wusste, dass er existiert. Jetzt ist er sein Zuhause.
Walid Kazmouz kommt aus Syrien, aus der Stadt Ariha im Gouvernement Idlib. „Vor dem Krieg hätte ich nie gedacht, dass ich in ein anderes Land gehe, dort lebe und arbeite“, sagt der 40-Jährige. In Ariha sei es ihm gut gegangen. Er hatte ein Haus, ein Auto, Familie. Kazmouz ist ausgebildeter Techniker, arbeitete für die Telekom.
„Wir müssen aus Syrien raus, egal in welches Land“
Er habe manchmal darüber nachgedacht, eines Tages nach Damaskus zu ziehen. In die Hauptstadt. Doch dann zerstört der Bürgerkrieg sein Leben. Er verliert alles: sein Haus, sein Auto, seine Stadt. Zu seiner Frau habe er damals gesagt: „Wir müssen aus Syrien raus, egal in welches Land.“
Ihm sei klar gewesen, dass sie wieder bei null anfangen würden, aber in Syrien habe er keine Perspektive mehr gesehen. Vor allem nicht für Zafer, seinen damals drei Jahre alten Sohn. Ariha liegt nur rund 50 Kilometer entfernt von der türkischen Grenze. Aber: „Von Syrien in die Türkei kann man nicht mit dem Bus fahren“, sagt Kazmouz. Die Grenzen werden bewacht. Die Familie muss zu Fuß und querfeldein laufen.
Für umgerechnet etwa 1000 Euro bringt ein Schlepper sie über die grüne Grenze in die Türkei. Er habe schnell versucht, dort Arbeit zu finden, doch keinen Erfolg gehabt. Keine Arbeit – kein Geld. Also beschließt er, sein Glück lieber in einem anderen Land zu versuchen. In der EU.
Auf dem Mittelmeer ging das Boot kaputt – Kazmouz hatte Todesangst
Aber das Geld wird knapp. Um die weitere Flucht bezahlen zu können, sollen Kazmouz’ Frau und sein kleiner Sohn erst einmal in der Türkei bleiben. Die Familie ahnt nicht, dass es vier Jahre dauern wird, ehe sich alle wiedersehen.
Von der Türkei schafft es Walid Kazmouz über das Mittelmeer nach Griechenland zu kommen. Es seien 95 Erwachsene in dem Boot gewesen und 15 Kinder, und dann sei der Motor kaputtgegangen. Wasser sei in das Boot eingedrungen. Kazmouz war sich sicher gewesen, dass alle sterben.
„Wir waren neun Stunden auf dem Meer.“ Der griechische Grenzschutz habe sie drei Stunden lang beobachtet, ehe er ihnen geholfen habe. „Sie haben uns nach Ramos gebracht“, berichtet Kazmouz weiter. Dort habe er die Erlaubnis zur Ausreise aus Griechenland erhalten. Über Serbien gelangt er nach Ungarn, wo er für eine Woche ins Gefängnis kommt, ehe er mit dem Zug weiter nach Österreich reisen darf. Dort muss er sich entscheiden: bleiben oder nach Deutschland weiterreisen. Kazmouz entscheidet sich für Letzteres.
Kazmouz kämpfte sich vom Ein-Euro-Job hoch zur Festanstellung
17 Tage nach seinem Aufbruch in Syrien kommt er in München an. „Wir haben nie geschlafen, immer weiter, weiter“, sagt er. Von dort geht es nach Dortmund und schließlich in die Gemeinschaftsunterkunft nach Kall. Hier trifft er auf ehrenamtliche Helfer, die ihm vom Begegnungscafé erzählen.
Kazmouz beginnt, dort regelmäßig hinzugehen, und lernt eine Mitarbeiterin der Caritas kennen, die ihn unterstützt. „Ich brauche Arbeit“, habe er zu ihr gesagt. Er sei einfach nicht der Typ dafür, den ganzen Tag nur auf dem Sofa zu sitzen.
Einfach sei es aber nicht gewesen, weil er nur wenig Deutsch habe sprechen können. Für ihn nur ein Grund mehr, möglichst schnell einen Job zu finden. Denn, so sagt er: „Ohne Kontakt lernt man die Sprache nicht.“ Er beginnt einen Ein-Euro-Job, mäht Rasen, schleppt Kisten, erledigt kleinere Arbeiten. Sieben Monate habe er das gemacht. Dann habe er verkündet: „Ich brauche einen richtigen Job.“
Die Firma T.E.A.M. in Kall sucht zu diesem Zeitpunkt dringend Arbeitskräfte. Eine Bekannte vermittelt. Obwohl Kazmouz nach wie vor kaum Deutsch spricht, kann er im Lager anfangen. Zunächst befristet für ein Jahr, doch sein Chef sei so zufrieden mit ihm gewesen, dass er ihm danach eine unbefristete Stelle angeboten habe.
Damit seine Familie zu ihm kommen konnte, klagte Kazmouz – und bekam Recht
An anderer Stelle läuft es nicht so gut für Walid Kazmouz: Zwei Jahre wartet er bis zu seiner Anhörung vor Gericht. Schließlich erhält er subsidiären Schutz. Das heißt: Er kann vorerst bleiben, seine Familie aber kann er nicht nach Deutschland holen. Kazmouz klagt, und rund ein Jahr später erhält er einen Aufenthaltstitel für drei Jahre. Nun darf er auch seine Familie zu sich holen.
Seine Frau und sein inzwischen sechs Jahre alter Sohn leben immer noch in der Türkei. Er kann nur übers Smartphone mit ihnen sprechen. „Das war eine sehr schwere Zeit.“ Immer wieder habe sein Sohn ihn gefragt, wann er endlich zu ihm kommen könne. Er sei einfach noch zu klein gewesen, um das zu verstehen, berichtet Kazmouz. Auch dafür sei die Arbeit gut gewesen: Ablenkung. Nach seinem Erfolg vor Gericht dauert es noch ein paar Monate, bis er seine Frau und seinen Sohn wieder in den Armen hält.
Inzwischen leben sie in einer eigenen Wohnung. Vor drei Jahren wurde Töchterchen Celine geboren. Im April 2021 beantragt Kazmouz seine Einbürgerung. Vier Monate später hält er seinen deutschen Pass in den Händen. Seine beiden Kinder erhalten ebenfalls die deutsche Staatsbürgerschaft. Seine Frau muss zwei Jahre warten und will den Einbürgerungsantrag noch in diesem Jahr stellen.
Kazmouz hat Arbeit und Freunde gefunden – doch eine Sache gefällt ihm nicht an Deutschland
Im Herbst letzten Jahres wechselt Kazmouz die Arbeitsstelle. Er wird Techniker bei der Firma Elektro Berners in Dreiborn. Er arbeitet also in dem Job, den er in Syrien gelernt hat. „Ich bin jetzt richtig“, sagt er und lacht. Deutschland sei seine zweite Heimat geworden, trotzdem fehle ihm seine erste. Der Geruch, das Wetter, die Luft – „ich vermisse das ganze Syrien“. Dass seine Mutter und seine verwitwete Schwester sowie deren beide Kinder noch in Syrien leben, mache es auch nicht leichter.
Trotzdem sei er gerne hier. „Die Leute sind immer nett“, sagt er. Zumindest seien ihm noch keine schlechten Menschen begegnet. Er habe Freunde und eine Moschee gefunden. Seine Kinder hätten hier viele Chancen. Überhaupt in einer Demokratie und in Frieden zu leben, sei wertvoll. Jeder sei hier vor dem Gesetz gleich und dürfe frei seine Meinung äußern. „In Syrien kann man nichts sagen.“
Nicht so gut gefällt ihm die Bürokratie. „Viel Papier in Deutschland“, sagt Kazmouz. Auch die Sprache sei nach wie vor herausfordernd. Dabei beherrscht er sie gut. Die Caritas frage ihn manchmal als Dolmetscher an, berichtet er. Das Begegnungscafé, das ihm so viel Glück gebracht hat, musste wegen der Flut zwei Jahre schließen. Inzwischen hat es wieder auf. „Und ich gehe immer noch hin“, sagt Kazmouz und lacht.
Über die Serie
In der Serie „Ankommen“ stellen wir Menschen vor, die sich aus unterschiedlichen Gründen mutig auf den Weg gemacht haben – in ein neues Land und damit in eine neue Kultur und Gesellschaft.
Was gefällt ihnen an Deutschland, was bleibt fremd? Und welchen Herausforderungen müssen sie sich stellen, um am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben zu können?
„Integration setzt die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft voraus wie auch die Bereitschaft der Zugewanderten, die Regeln des Aufnahmelands zu respektieren und sich um die eigene Integration zu bemühen“, sagt das Ministerium für Integration (BMI).
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