KlinikenAus Patienten werden „Urlauber“ – Posse um Tourismus-Statistik
Kreis Euskirchen – Über den erneuten Rückgang der Tourismuszahlen im Kreis Euskirchen berichtete diese Zeitung in der vergangenen Woche: Die Zahl der Übernachtungen sank laut Landesbetrieb Information und Technik (IT.NRW) 2016 um 3,8 Prozent. Im Kreis wurden 839 006 Übernachtungen gezählt.
Besonders stark war der Rückgang in Dahlem: Das Minus betrug dort 18,5 Prozent (124 023 Übernachtungen). Die neue Touristenhochburg sei Nettersheim mit 136 848 Übernachtungen vor Blankenheim (125 351). Doch das Zahlenwerk der Statistiker hat seine Tücken.
Patienten als Touristen
„Alle unsere Übernachtungen werden in die Tourismusstatistik aufgenommen“, berichtet Detlef Hambücker, Geschäftsführer der Eifelhöhen-Klinik in Marmagen. Genaue Übernachtungszahlen für 2016 darf er noch nicht nennen, denn die Rehaklinik ist eine börsennotierte Aktiengesellschaft.
Aber in den Vorjahren wurden laut Geschäftsbericht im Schnitt rund 100 000 stationäre Pflegetage abgerechnet. Ein Pflegetag entspricht im Prinzip einer Übernachtung. „Auch im vergangenen Jahr war die Eifelhöhen-Klinik sehr gut ausgelastet“, sagt Hambücker. Würden dort Touristen übernachten, hätten sie „Urlaub auf Krankenschein“.
Denn für die Behandlungen im 300-Betten-Haus zahlen Krankenkassen, Rentenversicherungen oder Berufsgenossenschaften. „Zu uns kommen keine Urlauber, sondern Patienten, die frisch aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Viele sind bettlägerig und werden bei uns wieder aufgepäppelt“, so Hambücker.
Manche Patienten haben künstliche Gelenke erhalten, andere sind nach Unfällen operiert worden oder haben einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitten. Das Einzugsgebiet der Klinik beträgt 120 bis 150 Kilometer.
Die touristischen Aktivitäten sind beschränkt. „Manche machen mal einen Spaziergang um den Ort, andere unternehmen einen Ausflug zum Kloster Steinfeld“, so Hambücker.
„Überzogene“ Zahlen
Nicht nur die Übernachtungszahl in der Gemeinde Nettersheim krankt an dieser Tatsache. „Die offiziellen Übernachtungszahlen für Zülpich sind deutlich überzogen“, sagt Hans-Gerd Dick von der Wirtschaftsförderung der Römerstadt. Die Statistik weist für sie 26 158 Übernachtungen aus. Dick: „Die allermeisten entfallen auf das Geriatrische Zentrum.“
In der Stadt gebe es kein Hotel, nur einige kleinere Pensionen. Es kämen fast nur Halbtages- oder Tagestouristen.
„Morgens führe ich regelmäßig Reisegruppen zum Zülpicher See, nachmittags sind sie am Rursee“, nannte Dick ein Beispiel. Die Stadt halte am See zwar eine Fläche für potenzielle Investoren bereit, die dort ein Hotel errichten wollten. Dick: „Bislang haben wir noch keinen Interessenten gefunden.“
Schräglage
„Die offizielle Statistik hat eine enorme Schräglage“, urteilt Dahlems Bürgermeister Jan Lembach: „2015 wies das Zahlenwerk für unsere Gemeinde ein Plus von 21,7 Prozent aus, für 2016 ein Minus von 18,5 Prozent.“ Seine Argumentation: „Da die Bettenzahl sich nicht verändert hat, kann es solch extreme Schwankungen nicht geben.“ Und: „Schon die ausgewiesene Bettenzahl stimmt nicht.“ Denn in der Statistik würden für Dahlem 1040 Betten in Betrieben mit mindestens zehn Betten genannt. Es seien aber 1500.
„Auch die Behauptung, die Entleerung des Kronenburger Sees im vergangenen Sommer sei der Hauptgrund für den Rückgang der Übernachtungen im Kreis Euskirchen, stimmt nicht“, so Lembach weiter. Denn aus den Monatsmeldungen könne man entnehmen, dass der Dahlemer Rückgang im August nur sieben Prozent betragen habe. Der Bürgermeister schlussfolgert: „Der Fehler muss in der Statistik liegen.“
Das Landesamt zeigte sich auf Nachfrage dieser Zeitung kooperationsbereit. „Aus Datenschutzgründen dürfen wir keine Auskünfte zu einzelnen Betrieben geben“, hieß es auf der Pressestelle. Doch Hinweisen gehe man nach.
Andere Kommunen
„Diese Statistik ist mit Vorsicht zu genießen“, sagt auch Anja Schmitz, Touristikfachfrau in Hellenthal. Denn kleinere Betriebe würden nicht berücksichtigt. Ansonsten sei aus Hellenthaler Sicht kein grober Fehler bekannt. Ähnlich äußerten sich die Verwaltungen in Bad Münstereifel, Kall, Heimbach und Euskirchen.
Auswirkungen
Warum werden 100 000 Übernachtungen der Eifelhöhen-Klinik in die Tourismusstatistik aufgenommen? Die Antwort der Pressestelle von IT.NRW: „Vorsorge- und Rehakliniken zählen zu den Beherbergungsbetrieben.“ Dies sei im Gesetz so festgelegt und werde in Bund und Ländern gleich gehandhabt (siehe „Definition“).
Definition
Das Statistische Bundesamt definiert Vorsorge- und Rehabilitationskliniken folgendermaßen:
Es sind Beherbergungsstätten, die unter ärztlicher Leitung stehen und ausschließlich oder überwiegend Kurgästen zur Verfügung stehen. Als Kurgäste gelten Personen, die sich aufgrund einer ärztlichen Verordnung in der Klinik vorübergehend aufhalten.
Ziel des Aufenthalts ist die Erhaltung oder Wiederherstellung ihrer Gesundheit oder der Berufs- oder Arbeitsfähigkeit sowie die Inanspruchnahme der angebotenen Kureinrichtungen außerhalb des Beherbergungsbetriebs. Zu den Vorsorge- und Rehabilitationskliniken zählen auch Kinderheilstätten, Sanatorien, Kur- und ähnliche Krankenhäuser (Fachabteilungen anderer Krankenhäuser).
Im Unterschied zur Krankenhausstatistik werden Vorsorge- und Rehabilitationskliniken in der Beherbergungsstatistik nur dann erfasst, wenn die dort untergebrachten Personen überwiegend in der Lage sind, während des Aufenthaltes die Klinik zu verlassen und die Tourismusangebote der Gemeinde in Anspruch zu nehmen. (jop)
„Unsere Patienten sind keine Kurgäste“, so die Einschätzung von Hambücker. Folgt man dieser und betrachtet die Patienten nicht als Urlauber, so hat das enorme Folgen für die Touristikstatistik im Kreis. Die Zahl der Übernachtungen sinkt um rund ein Achtel auf 739 000.
Noch krasser wären die statistischen Auswirkungen für Nettersheim: Statt 617 Gästebetten wären es 317, statt 136 848 Übernachtungen nur 36 848. Und Nettersheim wäre nicht mehr Touristenhochburg des Kreises Euskirchen, sondern nur noch ein kleines, eher unbedeutendes Urlaubsziel.