LebensgefühlZeitblende führt Kommerner Museumsbesucher ins Jahr 1972
Mechernich-Kommern – Schlaghosenalarm im LVR-Museum in Kommern: Beim zwölften Museumsfest der Erinnerungen waren die ausgestellten Herrenhosen, aber auch Miniröcke, einige der Blickfänge eines auf den ersten Blick in Mode wie Musik farbenfrohen und bunten Jahres. Mit der Zeitblende ging es zurück ins Jahr 1972.
Doch vor 50 Jahren verübte auch die erste Generation der RAF mit Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin erste Attentate – es waren die Vorläufer des Deutschen Herbstes 1977. Auch daran erinnerte Museumsdirektor Carsten Vorwig am Rande der Hauptbühne auf dem Marktplatz Rheinland, wo Vorträge, Konzerte und Aktionen an die Zeit vor 50 Jahren erinnerten. 1972 – das war eben nicht nur das Jahr der ersten Single von ABBA oder der Markteinführung des Bobby Car.
1972 war ein eher gespaltenes Jahr
Es war, woran eine Ausstellung im Handwerkerhaus Henkel erinnert, insgesamt ein eher gespaltenes Jahr. Freudig begannen die Olympischen Spielen unter dem bis heute architektonische Maßstäbe setzenden Zeltdach im Münchener Stadion. Doch die Freude wurde am 5. September 1972 durch das Attentat von palästinensischen Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft jäh unterbrochen.
In Kommern wurden die zahlreichen Besucher zwei Tage lang eher an anderes erinnert. Bei Konzerte von Tribute-Bands wurde die Rockmusik der Zeit gespielt: Elton John eher für das breite bürgerliche Publikum, Deep Purple für die Freunde des frühen Headbanging und legendärer Gitarrenriffs wie bei „Smoke on the water“.
29-Jähriger Kommerner mag das Lebensgefühl der 1970er
Marina Kirsten wiederum, die sich „die Schlagerpiratin“ nennt, widmete sich dem, was den einen das Schönste, den anderen das eher Unausstehliche war: Deutsche Schlager, beispielsweise von Michael Holm mit seinem „Mendocino“ – heute immerhin noch für jede Stimmungssause in der Stammkneipe gut.
Damit hätte man einem wie dem 29-jährigen Tobias Schmitz aus Kommern, hätte er damals seine wilden Jahre gehabt, nicht kommen können. Der Bankkaufmann trat in extremer Schlaghose, wild gemustertem und weit aufgeknöpftem Oberhemd samt XXL-Kragen und vor allem mit seinem Afro auf. Ein Jahr habe er diese Haarpracht gezüchtet. „Das Lebensgefühl der 1970er-Jahre entspricht mir, ich bin so auch Zuhause eingerichtet“, gestand Schmitz, der in dem Outfit 1972 zur Avantgarde gehört hätte.
Die Tänze der damaligen Zeit auf die Bühne gebracht
Jedenfalls im damaligen Westdeutschland jenseits kleiner Subkulturen in Berlin oder Köln, und mutmaßlich schon zweimal in der Eifel. Im großen Sehnsuchtsziel, dem „Swinging London“ rund um die Carnaby Street, war das da schon längst Standard. Genauso wie der Minirock. Beim Zeitblende-Fest trug Tanzlehrerin Beate Weute ein Exemplar zum ebenfalls stilechten, ärmellosen Rollkragenpulli. Mit Mann Kai-Ingo bat sie auf der Hauptbühne das Publikum zum Gruppentanz damaliger Gesellschaftstänze wie dem seinerzeit verruchten Décadanse.
Rund um die Bühne konnten die Zeitblende-Besucher unterdessen auch 160 Oldtimer bestaunen – kein Fahrzeug jünger als 1972. Darunter fanden sich auffällig viele Karmann Ghias. Viele der angereisten Besitzer sind Mitglieder eines westfälischen Fanclub. Dazu gesellten sich VW-Bullis und einige 2CVs von Citroën von denen es hieß, wer eine Ente in der Kurve zum Umfallen bringt, kriegt eine neue.
Im Kreis Euskirchen stand die Kommunalreform im Fokus
1972 war im Kreis Euskirchen in allererster Linie das Jahr der Kommunalreform, als aus den Kreisen Euskirchen und Schleiden einer wurde. Das oder die Eröffnung des Radioteleskops Effelsberg war eher Thema der über das gesamte Museumsgelände aufgebauten Stationen des „Weg der Geschichte – Kommern, Deutschland und die Welt 1972“.
In Erinnerung bleibt denjenigen, die damals jung waren, vermutlich eher das Schräge, das ebenfalls in der Sonderausstellung zu sehen ist – etwa David Bowie, der sich gerade kurzzeitig als „Aladdin Sane“ erfand.
Avantgarde im sehr politischen Sinne war dagegen das bis 1980 erhältliche Provopoly-Brettspiel, eine Verballhornung des Monopoly. Bei Provopoly kämpft eine blaue Gruppe, Vertreter der herrschenden Macht, gegen eine rote Gruppe, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ändern möchte. Dazu kann sie Demonstrationen, Besetzungen, Attentate, Blockaden oder Gefangenenbefreiungen nutzen. Es war ein Spiel – spätestens am 5. September 1972 war daraus bei den Olympischen Spielen blutiger Ernst geworden.