675 DNA-Proben eingegangenEin Dorf sucht den Mörder von Claudia Ruf
Grevenbroich – 23 Jahre und ein halbes, 8598 Tage Ungewissheit. Und jetzt soll hier, in einem geziegelten Flachbau, zwischen bunter Fensterdekoration und kreidebleicher Schultafel, in einem Klassenraum ein Mörder gefunden werden, der Mörder.
8598 Tage ist es her, dass Claudia Ruf verschwand, in ihrem Heimatdorf Hemmerden, Teil von Grevenbroich. Am frühen Abend des 11. Mai 1996, einem Samstag, führte sie einen Nachbarshund aus, kam nicht wieder. Zwei Tage später fand man das Mädchen 70 Kilometer entfernt auf einem Feldweg bei Euskirchen. Tot. Claudia Ruf wurde gefesselt, vergewaltigt und erdrosselt. Ihr Leichnam danach mit Benzin übergossen und angezündet, um die Spuren zu verwischen. Der Täter wurde nicht gefunden. Noch nicht.
An diesem Wochenende, 23 Jahre und ein halbes nach dem Mord, bat die Polizei 800 Männer aus Rufs Heimat zum Gentest, dazu bundesweit noch 900 weitere, die an einem anderen Revier ihre Probe entnehmen lassen können. Alle, die zum Tatzeitpunkt in Hemmerden lebten und zwischen 14 und 70 Jahre alt waren.
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Es gebe da wieder eine Spur, heißt es. Ein Profiler hatte sich den Fall im Sommer noch einmal angesehen und ein neues Täterprofil erstellt. Er kam zu dem Schluss, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit der Gesuchte damals in Hemmerden gewohnt oder sich dort zumindest oft aufgehalten habe.
Eine Erkenntnis, die die Ermittlungen grundlegend veränderte. Natürlich wurde schon damals gefahndet. Der Fall löste bundesweite Aufmerksamkeit aus. Zeitweise arbeiteten mehr als 100 Beamte in der eingerichteten Mordkommission. Zehntausende Fahndungsplakate wurden verteilt. Die Staatsanwaltschaft versprach für Hinweise eine Belohnung von 20.000 Mark.
Was ist nun neu an dem 23 Jahre alten Mordfall?
Auch Eduard Zimmermann suchte in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ nach dem Mörder. Man war sich sicher, der Täter sei mobil, begehe Morde vielleicht in Serie, er komme auf jeden Fall nicht aus der Region. Dafür sprach, dass Claudia Rufs Leiche so weit weg von ihrem Zuhause gefunden wurde.
Bonner Kripobeamte reisten sogar nach Belgien, wo die Kindesmorde von Marc Dutroux entdeckt worden waren – sie fanden jedoch keine Verbindung zur Tat an Claudia Ruf. Die vollständige Profiler-Akte zum Fall habe laut Polizei mittlerweile über 1000 Seiten, im Landeskriminalamt in Düsseldorf gebe es einen eigenen Raum, in dem nur Dokumente zum Mord an Claudia Ruf stehen.
Was also ist nun, nach dieser langen Zeit, neu? „Das verraten wir aus ermittlungstechnischen Gründen nicht“, sagt Polizeisprecher Robert Scholten. „Ich formuliere es mal so: Wir glauben zu wissen, warum das Mädchen damals in Euskirchen abgelegt wurde.“ Auch das ein Durchbruch in den Ermittlungen.
Sieben Polizisten sitzen an diesem Sonntag im Flur der Gemeinschaftsgrundschule Hemmerden, sie tragen Neonjacken, hinter ihnen spielt ein Fernseher in Endlosschleife einen Zeichentrickfilm ab, der das Prozedere erklärt. Einverständniserklärung unterschreiben. Dann in den nächsten Raum. Mund auf, Wattestab unter Aufsicht eines Beamten an die Wangeninnenhöhle. Danke, das war’s schon.
Ein sekundenschneller DNA-Test soll Aufschluss bringen
Wenige Sekunden nur dauert es, den Stoff zu entnehmen, der alles verraten könnte: Desoxyribonukleinsäure, gemeinhin DNA genannt. Er macht das Erbgut eines Menschen aus, stempelt jede Zelle und macht so jeden Körper einzigartig.
1987 wurde zum ersten Mal mithilfe eines Massen-Screenings ein Mord aufgeklärt, im englischen Dorf Enderby, an einem 15-jährigen Mädchen, das vergewaltigt und getötet worden war. Seit 1998 führt auch das Bundeskriminalamt eine DNA-Analyse-Datei. Seit 2017, sagt Scholten, dürfen die Labore auch bei Beinahe-Treffern Alarm schlagen, also wenn DNA eines Verwandten des Täters auftaucht. Hemmerden hat knapp 2500 Einwohner. Ist die Lösung des Falls nah? „Wissen wir nicht“, sagt Scholten. „ Aber wir müssen alles versuchen, um den Mord an einem Kind aufzuklären.“
Mehr als 100 neue Hinweise nach erneuter Fahndungsaufnahme
120 Hinweise gingen 1996 unmittelbar nach dem Fund des toten Mädchens bei der Bonner Mordkommission und den Kollegen im Rhein-Kreis Neuss ein, die schon vorher nach der verschwundenen Claudia Ruf gesucht hatten. Doch es ergab sich keine heiße Spur.
Die Hoffnung, den Mörder doch noch dingfest machen zu können, hatte die Polizei 2009. Dank neuer Untersuchungsmethoden war es Mitarbeitern des kriminaltechnischen Labors in Düsseldorf gelungen, an den 1996 gesicherten Beweismitteln molekular-genetisches Material zu isolieren, das eindeutig nicht dem Opfer zugewiesen werden konnte. Die Ermittler riefen fast 350 Männer, die damals in der Nähe des Opfers gewohnt hatten oder durch Sexualdelikte aufgefallen waren, zu einer freiwilligen Reihenuntersuchung auf. Der Massen-Gentest verlief insgesamt negativ, es ergab sich keine Spur zum Mörder.
Nach der erneuten Fahndungsaufname in diesem Jahr sollen wieder mehr als 100 neue Hinweise binnen einer Woche bei der Polizei eingegangen sein. Das Dorf unterstützt die erneute Suche nach dem Täter, auf dem Platz vor der Kirche hängt ein riesiges Plakat, das auffordert, seine Speichelprobe abzugeben. Beamte hatten zuvor Infomaterialien im Ort verteilt.
Neben der DNA-Untersuchung bitten die Ermittler weiterhin um Hilfe. Die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach hat für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, 5000 Euro ausgelobt. Informationen nehmen die Ermittler unter der 02131 300-25252 sowie online entgegen. (bz/dpa/jl)
Der Test wurde sorgsam vorbereitet, vier Monate habe es gedauert, die Logistik einwandfrei zu planen. Jeden Abend werden die Proben zum Landeskriminalamt gefahren. Dennoch werde es etwa zwei Monate dauern bis Ergebnisse vorliegen. Vor dem ersten Termin am vergangenen Samstag – vier sind es insgesamt, die nächsten zwei am kommenden Wochenende – veröffentlichte die Polizei zudem ein Video von Rufs Vater.
„Bitte helfen Sie der Polizei, bitte helfen Sie mir“, sagt er darin. „Wenn Sie nicht hingehen, dann nützt das nur einem: dem, der meiner erstgeborenen, damals elf Jahre alten Tochter das Leben genommen hat. Er hat sich lange genug hinter uns allen verstecken können.“ Der Appell wirkt. Man habe eine unerwartet hohe Beteiligung. An den ersten beiden Tagen kamen bereits gut 700 der eingeladenen 800 Männer.
Einer von ihnen ist Heinz Tillmanns, graue Haare, er kann nur mit Krücken gehen. Zum Tatzeitpunkt war er 55 Jahre alt. Wie ist das, seinen Speichel in einem Mordfall abgeben zu müssen? „Ich fühle mich erleichtert“, sagt Tillmanns. Er sei damals für den Kreis beschäftigt gewesen, mit Rufs Vater, einem ehemaligen Lokalreporter, habe er oft zu tun gehabt. „Für das Schicksal der Familie fehlen mir noch heute die richtigen Formulierungen.“ Konsterniert vielleicht? Nein, das sei zu wenig, sagt Tillmanns. Er hoffe einfach, dass der Täter endlich gefunden werde. Genug sei genug.