FlutnachtIn Schweinheim kämpften Rettungskräfte nach Erkundung per Boot um ihr Leben
Kreis Euskirchen – Das Erste, was er verloren habe, sei das Zeitgefühl, sagt Jonah Kehren. Der 26-jährige Zülpicher hätte allerdings noch viel mehr verlieren können – sein Leben. Genau wie sein DLRG-Kollege Deniz Kloster und der Feuerwehrmann Oliver Oepen mit einem Kollegen. Das Quartett wollte am Mittwoch, 14. Juli, eigentlich nur eine Erkundungsfahrt mit einem DLRG-Boot durch Schweinheim machen – und bei Bedarf Anwohner per Fährbetrieb in Sicherheit bringen.
Doch die Rettungskräfte erlebten die wohl gefährlichsten Stunden ihres Lebens. „Bereits nach wenigen Metern war klar, dass das nicht einfach wird“, erinnert sich Kehren, Bootsführer der DLRG im Kreis Euskirchen. Und so war es dann auch. Die Strömung des Wassers war zu diesem Zeitpunkt schon so stark, dass das Boot abtrieb. Als dann auch noch der Außenborder kaputtging, konnte die Besatzung nur noch reagieren statt agieren.
Auch für Feuerwehrmänner eine außergewöhnliche Situation
Das Boot kenterte, warf die vier Rettungskräfte in die Fluten, die zu diesem Zeitpunkt durch das Zusammentreffen von Steinbach und Sürstbach in der Ortsmitte von Schweinheim wüteten. Boot, Paddel und der Rest der Ausrüstung waren weg. Das Quartett hatte aber Glück im Unglück. „Wir haben einmal durchgezählt, ob alle vier noch da sind, als wir wieder Boden unter den Füßen hatten“, sagt Kehren: „Wir standen plötzlich in einem Garten, in Kehrwasser.“
Ein Zaun und eine umgestürzte Mauer sorgten dafür, dass sich in einem kleinen Bereich die Strömung des Orbachs so verlangsamte, dass man sich – auch mental – sammeln konnte. Und die DLRG-Rettungsschwimmer den Feuerwehrmännern helfen konnten, die Schwimmweste auszulösen und auf das vorzubereiten, was dann kommen sollte.
„Für uns war die Situation auch nicht alltäglich, aber wir sind in unserer Ausbildung mal mit vollgesogener Kleidung geschwommen. Für Oliver und seinen Kollegen war das eine neue Erfahrung. So etwas ist für Feuerwehrmänner alles andere als normal“, sagt Kehren. Das bestätigt der Stotzheimer Oepen: „Ich habe zwar mal einen Rettungsschwimmerschein gemacht, aber da hatte ich keine Feuerwehrklamotten an.“
„Das Rettungssystem in Deutschland basiert auf Kommunikation“
Nachdem Stotzheims Löschgruppenführer Oliver Oepen sich aus dem Orbach gekämpft hatte und wieder in Stotzheim war, nahm er Kontakt zu seinen Kameraden auf. Die erhielten ab Donnerstag Unterstützung von der Einsatzbereitschaft des Kreises Lippe. Die Feuerwehrleute aus Schlangen, Detmold, Lippstadt und Barntrup bearbeiteten die Lagen in Stotzheim und Roitzheim. Über Feld- und Schleichwege ging es dank der Hilfe eines ortskundigen Unbekannten nach Stotzheim.
„Die Hilfsbereitschaft, die uns in den Tagen bis Sonntag entgegengebracht worden ist, war einfach unglaublich. Dabei waren wir da, um zu helfen“, sagt Ralf Heuwinkel, der in diesen Tagen die stellvertretende Einsatzleitung hatte. Er habe unter anderem schon beim Elbe-Hochwasser 2004 geholfen. „Das hier war das Schlimmste, was ich bisher gesehen habe. Weil es kein normales Hochwasser war, sondern eher eine Art Wasser-Schlamm-Lawine“, so Heuwinkel.
Ein großes Problem seien die ausgefallenen Kommunikationsmittel gewesen. „Das Rettungssystem in Deutschland basiert auf Kommunikation. Wenn das nicht möglich ist, haben wir ein großes Problem“, sagt der erfahrene Feuerwehrmann.
Nun war er mit Kamerad Philipp Lüning erneut in Stotzheim und übergab dem SV Stotzheim einen Scheck in Höhe von 1800 Euro, die bei einem Blitzturnier gesammelt worden waren, und zwei Trikotsätze.
Zudem kündigte Lüning an, mithilfe der Elektronikfirma Weidmüller weitere schnelle unbürokratische Hilfe nach Stotzheim zu bringen. Im Gerätehaus sollen künftig Notpacks, zu denen beispielsweise Powerbanks gehören, gelagert werden, um schnell an Strom zu kommen. (tom)
Die DLRG-Crew um Bootsführer Kehren und Strömungsretter Kloster erklärten den beiden Feuerwehrmännern, wie man sich in einer Strömung treiben lässt. „Die Position ist ähnlich wie in der Badewanne. Man liegt auf dem Rücken, um sich mit den Beinen je nachdem abstoßen zu können. Das Wichtigste, der Kopf, sollte möglichst hinten sein“, so der Experte. Über Funk habe man versucht, Verstärkung in Form weiterer Strömungsretter oder gar eines Hubschraubers zu erhalten. Doch beides war in dieser Phase, gegen 20.30 Uhr, unrealistisch. Das Quartett stand zu diesem Zeitpunkt etwa bis zur Brusthöhe im Wasser – Tendenz steigend.
650 Meter mit dem Kopf unter Wasser getrieben – über Mauern, Brücken und Zäune hinweg
Dann löste sich auch noch eine Sperre und aus dem Kehrwasser wurde eine reißende Strömung. „Wir hatten nur noch die Möglichkeit, uns treiben zu lassen“, erinnert sich Kehren. Zumal auch die Kräfte stetig nachließen.
Der Plan, möglichst lange zusammenzubleiben, war bereits nach wenigen Metern durch die starke Strömung hinfällig. Auch die Reihenfolge, die einen größtmöglichen Schutz für die Feuerwehrmänner gewährleisten sollte, indem Strömungsretter Kloster den Anfang und Bootsführer Kehren das Ende der Kette bildeten, hatte sich schnell erledigt. „Ich hörte nur noch ein ,Achtung, Jonah, Auto’, sagt der 26-Jährige. Da habe er auch schon die Windschutzscheibe durch seine klitschnasse Montur gespürt.
650 Meter sei er, teilweise mit dem Kopf unter Wasser, getrieben worden. Nicht nur über Autos, sondern auch über Mauern, Brücken und Weidezäune. „Ich bin noch an einem Feuerwehrauto vorbeigekommen. Die Kollegen saßen dort fest. Haben ein Seil in meine Richtung geworfen, aber ich war einfach zu schnell“, so Kehren. 300 Meter vor der L 119, unmittelbar an der Burg Ringsheim, habe er die Chance gehabt, sich auf ein Feld treiben zu lassen.
„Ich musste dem Einsatzleiter der Feuerwehr sagen, dass ich nicht weiß, ob meine Kollegen noch leben“
Dort stand das Wasser nicht so hoch. „Der Weg vom Feld bis zur Straße kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich bin mit jedem Schritt tief in den Boden eingesunken“, so Kehren, der es aber schaffte und von Feuerwehrleuten in Sicherheit gebracht wurde. Doch der für ihn schwierigste Moment sollte noch kommen. „Ich musste dem Einsatzleiter der Feuerwehr sagen, dass ich nicht weiß, wo seine Kollegen sind, ob sie noch leben“, erzählt der Rettungsschwimmer.
Recht schnell war aber klar, dass es nicht nur die DLRG-Mitglieder, sondern auch Oepen und sein Kollege geschafft hatten. „Ich bin von einem Schweinheimer gerettet worden. Er hatte mir ein Staubsaugerkabel zugeworfen und mich damit aus dem Wasser gezogen“, sagt Oepen. Mehrere Stunden verbrachte der Stotzheimer Löschgruppenführer bei dem Schweinheimer – in geliehenem T-Shirt, Boxershorts und Socken.
Gegen 4 Uhr habe er schließlich die nasse Einsatzkleidung angezogen und sei die Irmelsgasse hochgeschwommen. Auf schnellstmöglichem Weg ging es nach Stotzheim zum Gerätehaus. „Dort gab es eine kurze Lagebesprechung, dann habe ich Frühstück für die Jungs organisiert“, so Oepen. Erst dann sei er nach Hause gefahren. „Als der Kleine die Treppe runtergekommen ist, wurde es kurz sehr emotional“, sagt der Stotzheimer. Dann habe er heiß geduscht und sei wieder in den Einsatz gefahren.
Auch für Kehren war nach der Rettung von Normalität keine Spur. Die DLRG-Crew versuchte sich zunächst in der Euenheimer Tuchfabrik zu treffen und das weitere Vorgehen zu besprechen, doch dort herrschte Land unter. Mittlerweile ist aufgeräumt und im wahrsten Sinne klar Schiff gemacht worden – auch wenn ein Boot fehlt. Der Tümmler, der in Schweinheim gekentert war, hat einen Totalschaden erlitten. „Wir sammeln gerade Spenden für eine Ersatzbeschaffung“, so Kehren. 35.000 bis 40.000 Euro werden laut dem DLRG-Experten zufolge benötigt.