Durch die Energiekrise bedingt kaufen immer mehr Menschen im sozialen Kleiderladen des DRK ein. Cathleen Braun erzählt von ihrem Arbeitsalltag und dem Wunsch nach mehr Respekt.
Winter und EnergiekriseTäglich besuchen neue Gesichter den DRK-Kleiderladen in Euskirchen
Manchmal durchbricht ein schriller Schrei die arbeitsame Stille im Lager des sozialen Kleiderladens in Euskirchen. „Einen Brüller“, nennt Cathleen Braun, die einzige festangestellte Mitarbeiterin das dann. Solche „Brüller“ seien ihr selbst schon oft entfahren, sagt sie. So ein „Brüller“ entfährt aber auch gelegentlich den anderen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Ladens.
Der heutige Brüller: ein unappetitlicher Bademantel
Heute ist es Hannelore Anders, die schreit, weil sie auf ein unappetitliches Fundstück gestoßen ist. Aus einer Tasche zieht die Rentnerin einen abgetragenen, rosafarbenen Bademantel. Eine gelbliche Flüssigkeit ist ins Gewebe des Mantels gezogen – am Kragen und an den Ärmeln. Anders hält den Mantel mit spitzen Fingern hoch. Handschuhe trägt sie nicht.
„Es ist manchmal wirklich eine Zumutung, was die Leute hier abliefern“, sagt Cathleen Braun dazu. Getragene Unterwäsche oder ein Kaffeeservice, das aussehe, als sei es vom Frühstückstisch direkt in den Spendenkarton gewandert. Anders erinnert sich daran, wie sie vor gar nicht langer Zeit eine Kiste mit Küchenutensilien ausgepackt hat. Darin seien Teller und Tassen gewesen – das Übliche eben.
„Müllentsorgung“ statt angemessenen Spenden
Aber am Boden der Kiste habe ein kaputtes, scharfkantiges Glas gestanden. „Ich hätte mich daran schwer verletzen können“, sagt Anders. Es könne natürlich passieren, dass so ein Glas auf dem Transportweg kaputtgehe, räumt sie ein. Scherben habe sie in der Kiste aber keine gefunden. Jemand müsse also ganz bewusst das kaputte Glas am Boden der Box versteckt haben. „Müllentsorgung“ nennt Cathleen Braun das. Und „fahrlässig“ findet Hannelore Anders das.
Leider sind solche Vorkommnisse für Cathleen Braun und die anderen sieben ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Kleiderladens keine Seltenheit. „Wir wünschen uns ein Mindestmaß an Respekt und Wertschätzung für unsere Arbeit“, sagt Braun.
Im Kundenraum, wie in der Garage, in der die Kleidung und die Haushaltswaren angeliefert würden. Spendensäcke auszuräumen und zu sortieren, solle zumutbar sein – und die Umgangsformen zumindest höflich. „Aber manchmal werden wir wie der letzte Abschaum behandelt“, sagt die Angestellte.
Vorurteile und Respektlosigkeit halten sich hartnäckig
An Wertschätzung und Respekt mangele es allerdings nicht nur gegenüber den Mitarbeiterinnen. Sondern auch denjenigen gegenüber, die auf den Einkauf im Kleiderladen angewiesen seien. In den Köpfen der Menschen halte sich hartnäckig das Bild, sagt Braun, dass in den Kleiderläden eben nur die sozial schwächsten Menschen einkaufen kämen.
Die Sätze „Die sollen doch froh sein, wenn sie überhaupt etwas kriegen“ und „Wenn man nichts hat, dann nimmt doch auch das“ kann Braun nicht mehr hören. Niemand müsse fremde und gebrauchte Unterwäsche auftragen. Oder kaputte Töpfe und Pfannen mit nach Hause nehmen. Geschweige denn: sich darüber freuen.
Hannelore Anders sagt: „Selbst wenn ich weniger Geld habe als andere, muss ich doch keine Kleidung anziehen, die kaputt ist oder schmutzig.“ Das soll Anders zufolge auch nicht der Anspruch eines solchen Kleiderladens sein. Jeder Mensch habe seine Würde, findet Cathleen Braun.
Egal, ob er Millionär sei oder auf jeden Euro achten müsse. Jeder Mensch habe ein Recht darauf, in ordentlicher Kleidung herumzulaufen. Jeder Mensch habe ein Recht darauf, ein sauberes und intaktes Kaffeeservice zu kaufen – ob für vier oder 400 Euro. Dafür sorgen Cathleen Braun und ihre Mitarbeiterinnen jeden Tag. Dafür, dass ein sauberes Kaffeeservice im Laden steht. Und dafür, dass die Menschen, die dort einkaufen kommen, ihre Würde behalten.
Eine Stammkundin betritt den Verkaufsraum. Sie komme schon seit vier Jahren immer gern her, sagt sie. Weil die Kleidung „noch so gut in Schuss“ sei. In anderen Kleiderkammern in anderen Städten habe sie auch schon schlechtere Erfahrungen gemacht. Mottenlöcher und Risse in der Kleidung seien keine Seltenheit. Hier finde sie aber immer, was sie brauche. Zuletzt sei das ein Markenwintermantel für ihren Mann gewesen. „Der saß wie angegossen“, sagt sie. Und: „Wie der sich gefreut hat.“
Winter und Gaskrise stellen Menschen vor finanzielle Herausforderungen
In den vergangenen Monaten sei leider alles immer teurer geworden, sagt sie. Und kalt sei es geworden. Da sei ein guter Wintermantel gerade das wichtigste Kleidungsstück. „Ich kann für eine Winterjacke leider keine 300 Euro ausgeben. Aber frieren will ich auch nicht.“
So wie ihr geht es zurzeit vielen. Der Winter ist hereingebrochen, und durch die Gaskrise sind die Lebenshaltungskosten gestiegen. Fabrikneue, wärmende Kleidung kann sich längst nicht mehr jeder leisten. Deswegen besuchen immer mehr Menschen den sozialen Kleiderladen an der Münstereifeler Straße.
„Ich sehe hier jeden Tag neue Gesichter“, sagt Cathleen Braun. Auch Edeltraud Engelen, die stellvertretende Kreisvorsitzende des Deutschen Roten Kreuzes, hat diese Entwicklung bereits bemerkt. Die erste große Welle neuer Kundschaft sei nach der Flut in den Laden geströmt, erzählt sie. Seitdem die Preise durch die Energiekrise explodiert seien, mache sich der Anstieg an neuer Kundschaft aber sogar noch heftiger bemerkbar.
Besonders in Erinnerung blieb Engelen der Tag, an dem sie eine Bekannte im Kleiderladen sah, von der sie das nicht erwartet hatte. „Ich dachte, es ginge ihr finanziell sehr gut“, sagt Engelen und dass sie sich zunächst über den Besuch der Bekannten sehr gewundert habe.
Dass das Geld bei vielen aber nicht mehr so locker sitze, wie es einmal saß, bemerkt Engelen aber auch in der eigenen Tasche. Außerdem: „Warum sollten wir Kleidung teuer einkaufen, wenn man sie auch günstig gebraucht erwerben kann?“ Schließlich wüssten wir alle ja noch nicht ganz genau, was auf uns zukomme, und die ersten Energiekostenabrechnungen des Winters stünden auch noch aus.
Zahl der Kundinnen im DRK-Kleiderladen steigt
Beim Betreten des Ladens sieht sich eine Kundin um, sucht Blickkontakt mit Cathleen Braun, als wolle sie fragen, ob sie hereinkommen dürfe. Sie taxiert auch die anderen Kunden im Laden genau, bevor sie sich der Stange mit den Winterpullovern widmet.
Sie sei das erste Mal im DRK-Kleiderladen, sagt sie. Und dass sie nicht genug warme Pullover für den Winter habe – weder für sich noch für ihre Kinder. Wie alle Kunden des Kleiderladens möchte sie ihren Namen nicht nennen. Weil sie sich schäme, sagt sie.
Edeltraud Engelen weiß: „Kleidung im sozialen Kleiderladen zu kaufen, ist noch immer schambehaftet.“ Und das, obwohl die Zahl der Kunden steige. Und das, obwohl der Trend zur Nachhaltigkeit gehe. Scham sitze vor allem noch in den Köpfen der älteren Kunden, sagt Engelen.
Früher, vor 20 Jahren, da sei das schon so gewesen. Da sei man schnell argwöhnisch beäugt worden, wenn man etwas vom Trödel anhatte. Wer in Second-Hand-Läden shoppen ging, habe schnell als „ärmlich“ gegolten. Wenn man etwas auf sich gehalten habe, habe man diese Läden gemieden. Diese Zeiten seien aber eigentlich längst vorbei, sagt sie. Die jüngeren Generationen hätten die Waren aus zweiter Hand längst wieder für sich entdeckt.
„In den Großstädten werden Second-Hand-Shops frequentiert wie verrückt, und hier schämt man sich. Das finde ich paradox“, sagt auch Hannelore Anders. Ihr zufolge müsse endlich ein Umdenken stattfinden, in den Köpfen der Leute.
Und dieses Umdenken beinhalte einen wertschätzenden Umgang miteinander – unabhängig von Einkommen und sozialem Status. Es solle sich niemand dafür schämen, Kleidung aus zweiter Hand zu kaufen. Denn das täten ohnehin längst mehr Leute, als man meine.
Sie selbst zähle sich dazu. Auf der anderen Seite sei es wichtig, diejenigen, die auf die Kleiderläden angewiesen seien, nicht geringzuschätzen, nicht auf sie herabzuschauen. Leider erlebe man im Kleiderladen aber tagtäglich beides: die Geringschätzung der Spender wie die Scham der Kunden.
Wir-Gefühl geht verloren
Cathleen Braun, jeden Tag konfrontiert mit den beiden Extremen, bemerkt bereits seit den Pandemiejahren einen tiefer werdenden Graben zwischen Arm und Reich. Jeder sei sehr für sich, sagt sie. Das Wir-Gefühl sei ihr in den vergangenen Jahren zu stark aus dem Fokus gerückt. Dabei sei das doch genau die Idee, die hinter so einem Laden stehe: das Wir-Gefühl.
Armut: Die Serie
Einen traurigen Höchststand erreichte laut dem Paritätischen Armutsbericht die Bedürftigkeit in Deutschland 2021 mit einer Quote von 16,6 Prozent. 13,8 Millionen Menschen müssen derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.
„Noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Corona-Pandemie“, sagt Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.
In der Serie widmen wir uns den unterschiedlichen Gesichtern und Auswirkungen von Armut, wie sie im Kreis Euskirchen allerorts zu finden sind.
Dafür sprechen wir mit Sozialverbänden, Vereinen und Initiativen, vor allem aber mit Betroffenen. Denn sie sind die wahren Experten und können fernab von schnöden Statistiken, trockenen Gesetzestexten und politischen Statements über die alltäglichen Herausforderungen berichten, die die Armut mit sich bringt.