Dienstags ist es für zwei Stunden im Edeka in Flamersheim nicht so hell und stiller. So ist der Einkauf für hypersensible Menschen stressfreier.
Stiller EinkaufFlamersheimer Supermarkt verzichtet auf grelles Licht und Werbung
Die Stille Stunde dauert in Flamersheim 120 Minuten. Immer dienstags von 18 bis 20 Uhr verändert sich die Edeka-Filiale neuerdings ein wenig – gefühlt wird sie sogar zur Entschleunigungszone, in der man stressfreier einkaufen kann. „Es ist ein ganz anderes Einkaufen“, sagt Anja Beul (Name geändert).
Die Euskirchenerin ist hypersensibel. Grelles Licht, Geräusche, Emotionen – alles nimmt die 43-Jährige sehr intensiv wahr. Das führt dazu, dass es bei ihr im Vergleich zu normal empfindlichen Menschen rasch zu einem Zustand der Reizüberflutung beziehungsweise Überforderung kommt.
Das Gewusel beim Einkaufen stresst hypersensible Menschen
„Wenn eine Verkäuferin gestresst ist, überträgt sich das sofort auf mich. Auch ich bin dann gestresst. Ich sauge solche Emotionen auf wie ein Schwamm“, sagt Beul: „Und wenn der Schwamm voll, das Nervenkostüm ausgereizt ist, bekommt das schon mal mein Umfeld ab, weil ein Geräusch, beispielsweise eine Gabel, die auf den Boden fällt, einfach zu viel ist.“ Dann brennen mehr oder weniger die Sicherungen durch.
Auch viele Menschen, die hektisch herumwuseln, etwa beim Lebensmitteleinkauf, können bei Beul Stress verursachen. Damit ist sie nicht allein. Studien zufolge sind etwa 10 bis 20 Prozent der Menschen hypersensibel – dazu zählen zum Beispiel Autisten. Auch für sie können grelle Reklame und laute Werbespots zum Stresstest werden, der nicht immer bestanden werden kann – so gerne man das auch manchmal möchte.
In Flamersheim ist nun dienstags von 18 bis 20 Uhr Stille Stunde
Und da setzt die Stille Stunde im Flamersheimer Edeka-Markt an. Dienstags zwischen 18 und 20 Uhr wird in der Filiale an der Christian-Schäfer-Straße das Licht gedimmt – zumindest dort, wo es nach den Arbeitsschutzrichtlinien möglich ist. Ausnahmen sind laut Filialleiter Dirk Steilen die Fleisch- und Wursttheke, die Obsttheke und der Kassenbereich: „Wenn sich jemand beim Schneiden des Schnitzels am Finger verletzt, ist schließlich auch niemanden geholfen.“
Auch im benachbarten Trinkgut-Markt verzichtet Steilen auf die Stille Stunde. „Einem Leergut-Automaten kann man nicht sagen, dass er die leeren Pfanddosen etwas leiser zerdrückt. Und Kästen aufeinanderstapeln ist auch laut“, sagt der 48-Jährige.
Aber auch im Kassenbereich bei Edeka ist etwas anders – wenn man genau hinhört. Das Piepen der Scanner an den Kassen ist leiser. Auf das Geräusch komplett zu verzichten sei nicht möglich. Schließlich sei die Kassiererin auf das akustische Signal angewiesen, dass die Ware erfasst worden ist, erklärt Steilen.
Für den Dienstag habe man sich bewusst entschieden, weil unter anderem keine neue Ware ankomme, die einsortiert werden müsse. „Gleichzeitig kommen dienstags weniger Menschen einkaufen als an einem Freitag. Und um die Uhrzeit, die wir ausgewählt haben, ist es erfahrungsgemäß auch recht ruhig.“ An einem durchschnittlichen Dienstag habe er etwa 1500 Kunden, sagt er. Freitags um die gleiche Zeit? „Das wäre Blödsinn“, so Steilen.
Das Feedback der Kunden sei bisher äußerst positiv. „Mir war nie bewusst, wie viele Menschen Einkaufen als Stress empfinden. Und dafür muss man nicht hypersensibel sein“, sagt Steilen, dem nach eigenem Bekunden auch der eine oder andere Werbespot „tierisch auf die Nerven“ geht. Zumal man – die beiden stillen Stunden ausgeklammert – viele Stunden unter Dauerbeschallung steht.
Und auf noch etwas wird während des stillen Einkaufens verzichtet: Durchsagen. Wer etwas vom Filialleiter möchte, muss ihn anrufen. „Alle Telefone sind in der Zeit auf lautlos gestellt. Sie vibrieren nur“, sagt Steilen.
Nicht alle Lampen konnten bautechnisch gedimmt werden
Handy lautlos, Lautsprecher aus – so weit, so einfach. Doch es war nicht alles leicht umzusetzen, was den Einkauf für hypersensible Menschen angenehmer machen soll. „Bautechnisch war es nicht in allen Bereichen möglich, die Lampen zu dimmen oder auszuschalten. Da hätte der Elektriker ganze Stromkreise umlegen müssen“, erklärt Steilen. Es sei so oder so schon mehr Arbeit gewesen als gedacht. Und dann kam bei der Elektrik hinzu, dass es der Fachmann sein sollte, der vor zehn Jahren die Leitungen beim Bau der Filiale verlegt hatte.
„Wegen der Größe des Ladens war das Ganze schon recht komplex. Es hat aber geklappt, auch wenn wir ein paar Wochen warten mussten“, so Steilen. Zwei, drei Testläufe habe man gemacht. Man habe schließlich schauen müssen, ob die Arbeit des Elektrikers wirklich Früchte trage. Oder auch, ob die Scanner leise genug seien. Erst als alles einen „Daumen hoch“ erhalten habe, habe er Handzettel gedruckt und die Stille Stunde auf Facebook beworben. Er finde die Initiative super. „Ich hatte das von Kollegen gehört, aber mich hatten auch Kunden angesprochen“, berichtet er.
Das Team des Supermarkts arbeitet gerne in der Stillen Stunde
Von der Aktion war er sofort angetan – genau wie das gesamte Team. „Die freuen sich regelrecht darauf, in der Stillen Stunde arbeiten zu können. Für den Dienstagabend brauche ich mir künftig keine Gedanken mehr zu machen“, so der Filialleiter: „Auch für das Team ist der Unterschied zwischen Regelbetrieb und Stiller Stunde deutlich spürbar.“ Bei den Kunden könnte es aber ein paar Stille Stunden brauchen, bis die Initiative angekommen ist. Allein der Aufsteller im Eingangsbereich beim Obst und Gemüse habe zunächst für Verunsicherung gesorgt. Der eine oder andere habe gefragt, ob die Filiale komplett oder früher schließe.
Dass an einem Tag pro Woche die Werbeschleife des Filialradios für zwei Stunden unterbrochen wird, hat laut Steilen bisher keinen Werbekunden auf die Barrikaden gebracht. Beim Werbemonitor im Eingangsbereich, der nicht nur durch seine Größe, sondern auch seine Helligkeit auffällt – wenn er denn eingeschaltet ist –, sieht das schon anders aus.
Marktleiter Dirk Steilen will auch seine Kollegen überzeugen
„Man hat uns aus Kulanz vier Monate zum Testen gegeben. Und dann wollen sie wegen der zwei Stunden noch einmal auf uns zukommen“, berichtet der Filialleiter im Gespräch mit dieser Zeitung: „Ich würde mich freuen, wenn wir sie von der guten Sache überzeugt bekommen. Ist das nicht der Fall, werden wir wohl ein bisschen unserer Eigenwerbezeit opfern.“
Sollte es so weit kommen, wäre das aber etwas, was er in Kauf nehme. „Weil ich an die Sache glaube“, so Steilen. Sein Bruder leitet in Bonn eine Edeka-Filiale. Er beteilige sich noch nicht an der Initiative, sagt Steilen: „Ich würde mir wünschen, dass sich möglichst viele Kollegen der Initiative anschließen. Fakt ist, dass der Lebensmitteleinkauf besonders hektisch und laut ist. Zudem muss man es regelmäßig machen.“
Und Anja Beul? Sie hat den Edeka-Markt in Flamersheim getestet. Ihr Urteil: absolut nachahmenswert. „Wenn man sagen kann, dass Einkaufen Spaß macht, dann trifft es auf die zwei Stunden zu“, berichtet sie im Gespräch mit dieser Zeitung.
Teilweise sei das Surren der Motoren in den Kühltheken das lauteste Geräusch gewesen. Das Geräusch habe sie bisher aber noch nie wahrgenommen. „Interessanterweise reden die Kunden automatisch leiser, sie flüstern fast schon“, so die Euskirchenerin.
Die „Stille“ im Laden übertrage sich anscheinend nicht nur auf sie, sondern auch auf die anderen Kunden. „Ich habe nicht das Gefühl, dass man mich anranzt, nur weil ich ebenfalls vor dem Joghurt stehe und schaue, welches ich nehmen möchte, und dadurch gefühlt für die anderen Kunden den Verkehr aufhalte“, sagt die 43-Jährige.
Hochsensibilität
Hochsensibilität oder auch Hypersensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich durch eine intensivere Wahrnehmung von Reizen kennzeichnet. „Alles ein bisschen zu viel“ könnte man es auch beschreiben, wenn man versucht, zu erklären, was Hochsensibilität ist.
Hochsensible Personen haben eine höhere Reizverarbeitungssensibilität, wodurch sie in einer Situation deutlich mehr Reize aufnehmen als „normal“ sensible Menschen. Der biologische Grund: die neuronalen Filter stufen bei hochsensiblen Menschen deutlich mehr Reize als relevante Reize ein. Sie nehmen beispielsweise Gerüche, Lichteindrücke, Geräusche oder etwas auf ihrer Haut wie einen kratzigen Pullover viel eher wahr als Personen ohne Hochsensibilität.
Bei Reizüberflutung sind häufiger Pausen nötig
Anja Beul (Name geändert) ist nach eigenen Angaben hypersensibel. „Hochsensible weisen verschiedene Symptome oder Merkmale auf. Sie besitzen viel Einfühlungsvermögen und eine ausgeprägte Vorstellungskraft“, berichtet die Euskirchenerin. Sie stoße mitunter auf Unverständnis, wenn sie durch die Reizüberflutung häufiger eine Pause während der Arbeit einlegen müsse.
„Mir ist ganz wichtig: Hypersensibilität ist keine Krankheit. Ob man sich als hypersensibel zu erkennen gibt oder nicht – das muss jeder selbst wissen“, sagt sie: „Ich habe es nur ganz wenigen Menschen erzählt, auch wenn es auch positive Eigenschaften gibt. Schöne Dinge erlebe ich wohl auch intensiver als der eine oder andere Mensch neben mir. Das genieße ich besonders.“