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Vor 20 JahrenSieben Opfer bei Amoklauf im Gericht

Lesezeit 4 Minuten

Euskirchen – Mittwoch, 9. März 1994, 9.30 Uhr: Konferenz in der Redaktion an der Berliner Straße, dann in die Dunkelkammer, Fotos für die Zeitung von morgen entwickeln, Texte schreiben: ein Journalisten-Arbeitstag vor 20 Jahren wie 1000 andere.

Keiner ahnt, dass an diesem Tag der 39 Jahre alte Erwin Mikolajczyk kurz vor 13 Uhr in einem Nebengebäude des Amtsgerichts an der Oststraße mit einer Pistole, Kaliber 45, ein Blutbad anrichten wird, bevor er eine Rucksack-Bombe an seinem Körper zündet. Der Amokläufer reißt sechs Unschuldige mit sich in den Tod. Der Tag wird bundesdeutsche Justizgeschichte schreiben: Vergleichbares hat es nie gegeben.

Blutbad im Gericht

Ich fahre mit im Wagen unseres Fotografen Karsten Karbaum: Zur Münstereifeler Straße, dann links Richtung Bahnhof und zur Oststraße, voraus flackern erste Blaulichter. Noch hält sich die Aufregung in Grenzen: Gemeldet ist eine „Explosion“. Klar, der Knall und die umherfliegenden Teile werden von weiter entfernten Beobachtern als Explosion verbucht, weil sie das Blutbad vorher im Gericht nicht mitbekommen haben.

Auch für den Fotografen und mich gibt es keinen Zweifel daran, dass das eine Gasexplosion war. Zumal Gegenstände aus dem Gebäude nach außen geschleudert wurden, ebenso ein Mensch, dessen Leichnam nun zwischen Gebäudetrümmern und Teilen der ehemaligen Einrichtung des Gerichts vor dem Haus liegt, und ein Strafgesetzbuch, das vermutlich auf dem Tisch des Richters gelegen hatte. Was soll das anderes gewesen sein als eine Gasexplosion?

Minuten später sträubt sich das Gehirn zu verstehen, worauf erste Interviews mit Zeugen, aber auch der Augenschein immer deutlicher hinweisen: Das ist kein zufällig sich ergebendes Unglück, sondern ein Kapitalverbrechen. Darauf deuten auch die Verletzungen der Opfer im Gebäude hin, die allesamt schwerste Schusswunden erlitten haben.

Mehrere sind bereits gestorben. Die Opfer sind am Ende der junge Richter Alexander Schäfer, 33, Vera Lamesic, 56, die ehemalige Lebensgefährtin des Täters, zwei ihrer Freundinnen und zwei Männer, die nur zufällig auf dem Gerichtsflur ins Visier des Amokläufers geraten waren. Sieben weitere Menschen erlitten Verletzungen.

Staatsanwältin Caroline Rühl – offensichtlich schwer traumatisiert – ist dem Blutbad mit Glück entkommen. Sie liefert der Polizei am Straßenrand eine erste knappe Darstellung. Dann gibt es keinen Zweifel mehr: Das war ein Amoklauf, wie ihn die Republik noch nicht erlebt hatte.

Die Botschaft von dem Anschlag muss so schnell wie möglich ins Pressehaus nach Köln übermittelt werden, damit der „Kölner Stadt-Anzeiger“ aktuell berichten kann – und um Raum für den Bericht auf der ersten Zeitungsseite freizuhalten. Handys haben wir nicht, wir kennen nicht einmal das Wort. Aber gleich nebenan ist eine Telefonzelle, und der Apparat funktioniert sogar, als ich Redaktionsleiter Wolfgang Rau einen ersten Überblick gebe.

Bald wird bekannt, dass es durchaus noch mehr Opfer hätten werden können. Eine Justizangestellte kann mit Hilfe zweier Passanten, die von außen auf die Schießerei im Haus aufmerksam geworden waren, gerade noch aus dem Fenster klettern, bevor die Bombe explodiert. Allerdings wird dabei einer ihrer beiden Helfer ernstlich verletzt.

In der Euskirchener Innenstadt bilden die Fahrzeuge mit Blaulicht an dem Tag lange Schlangen, zwei Hubschrauber landen im Park nebenan, aus einem steigt Landesjustizminister Rolf Krumsiek, der sich vor Ort ein Bild machen will. Alle möglichen Experten rücken an sowie Scharen von Fahndern, sobald die Rettungskräfte ihre Bemühungen eingestellt haben.

Am Spätnachmittag recherchiert die Redaktion auch den Namen des Amokläufers. Es handelte sich um Erwin Mikolajczyk, der zuletzt als Heizkesselwärter in einer Klinik in Freiburg gearbeitet hatte. Anlässlich eines Termins beim Amtsgericht Euskirchen war er nach Hause gekommen und wohnte bei seiner Mutter in Wißkirchen.

Mikolajczyk besaß als Sportschütze Schusswaffen und die Erlaubnis, mit Schwarzpulver umzugehen. Sein Verhalten ließ einige höchst befremdliche Eigenarten erkennen. Auch verlor er bisweilen die Kontrolle über sich.

Bei solch einer Gelegenheit hatte er seine Lebensgefährtin im Vorjahr schwer verletzt. Ein ehemaliger Arbeitgeber und auch ein Angehöriger hatten gegenüber der Waffenbehörde darauf hingewiesen, dass da möglicherweise Gefahr im Verzug sei.

Wegen der Körperverletzung hatte es einen Strafbefehl gegeben, der aber nicht rechtskräftig geworden war, weil Mikolajczyk Einspruch eingelegt hatte, über den am 9. März 1994 das Euskirchener Amtsgericht verhandeln sollte. Die Behörden gaben später an, dass sie Mikolajczyk nur dann hätten entwaffnen können, wenn das Urteil rechtskräftig geworden wäre.

Am Ende der Verhandlung, zu der er mit einer Halskette aus Knoblauchzehen gekommen war, sah der 39-Jährige rot. Er verließ kurz den Gerichtssaal, dann schoss er um sich und zündete den Sprengsatz.