Tabuthema FehlgeburtLisa M. hat zwei Kinder verloren – Sie will Frauen Mut machen
Kreis Euskirchen – „Ich sehe nichts mehr. Es hat sich nichts verändert. Der Herzschlag ist nicht mehr da.“ Die niederschmetternden Sätze ihrer Frauenärztin hat Lisa M. Monate später noch im Ohr. Fehlgeburt. Die zweite in einem Jahr.
Lisa M. sitzt mit ihrem Mann Simon in ihrer Küche und nimmt einen Schluck Tee. Die Treppe rauf im Kinderzimmer schläft ihre Tochter. Knapp ein Jahr nach deren Geburt hat die 29-Jährige Anfang 2020 festgestellt: Sie ist wieder schwanger. Doch noch vor dem ersten Frauenarzttermin bekam sie starke Blutungen. Die Ärztin lieferte dann die traurige Gewissheit: Lisa M. hatte eine Fehlgeburt. Vier Monate später bahnte sich erneut neues Leben an. Diesmal lief es besser, Lisa M. und ihr Mann konnten auf dem Ultraschall bereits einen Herzschlag sehen.
„Es war trotzdem der Gedanke da, da ist irgendwas komisch“, sagt Lisa M. heute. Sie sollte Recht behalten. In der elften Schwangerschaftswoche konnte die Frauenärztin keinen Herzschlag mehr feststellen. Lisa M. musste ins Krankenhaus, ihr totes Kind operativ entfernt werden. Der jungen Frau fällt es nicht leicht, von ihren Erfahrungen zu erzählen. Es ist ein intimes Thema. Um sich und ihre Familie zu schützen, möchte sie daher nicht, dass ihr ganzer Name in der Zeitung steht. Mit ihrer Geschichte möchte Lisa M. aber anderen Frauen Mut machen.
Unterschiede zwischen Fehlgeburten
Medizinisch unterscheide man zwischen spontanen und verhaltenen Fehlgeburten, erklärt Dr. Tatjana Klug, leitende Abteilungsärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe am Kreiskrankenhaus Mechernich.
Eine spontane Fehlgeburt mache sich von selbst bemerkbar. Sie blute wie eine starke Menstruation ab. Eine verhaltene Fehlgeburt bedeute, „dass die Schwangerschaft sich nicht weiter entwickelt und kein Herzschlag mehr festgestellt werden kann“, sagt Klug. In den allermeisten Fällen sei dann eine Ausschabung notwendig.
Grundsätzlich sei das Risiko einer Fehlgeburt bei jeder Schwangerschaft das gleiche. Egal, ob man schon eine hatte. Lediglich mit dem mütterlichen Alter steige auch das Risiko für eine Fehlgeburt fortlaufend an. Man brauche nach einer Fehlgeburt auch mit einer erneuten Schwangerschaft nicht zu warten. Erst ab drei oder mehr Fehlgeburten in Folge, also ohne die Geburt eines gesunden Kindes dazwischen, gebe es eine genetische Untersuchung des toten Fötus. Dabei gehe es darum, herauszufinden, ob es vielleicht ein genetisches Muster gebe, das sich immer wiederhole und es deshalb vermehrt zu Fehlgeburten komme, erklärt Klug. Wenn bei dieser Untersuchung eine Auffälligkeit festgestellt werde, werde danach das Blut der Eltern genetisch untersucht und ihr Erbgut gecheckt. Das passiere dann allerdings in einem speziellen Institut. Nach den Untersuchungen gebe es dort dann eine entsprechende Beratung für die Eltern. (jre)
Denn sie ist mit ihren Erfahrungen nicht allein. Etwa 15 bis 20 Prozent aller von einem Arzt festgestellten Schwangerschaften endeten mit einer Fehlgeburt, berichtet Dr. Tatjana Klug. Die Ärztin sitzt in einem kleinen Besprechungszimmer im Kreiskrankenhaus Mechernich. Weiße Wände, weißer Kittel, weiße Möbel – der Raum wirkt völlig steril bis auf eine Pinnwand neben der Tür. Sie zeigt Baby-Fotos und Dankeskarten – die schönen Seiten der Arbeit auf der gynäkologischen Station. Klug ist leitende Abteilungsärztin. Zu den Zahlen sagt sie, dass die Dunkelziffer für Fehlgeburten weitaus höher liegen müsse.
Denn nicht jede Schwangerschaft werde vor einer Fehlgeburt von einem Arzt festgestellt. Manchen Frauen falle eine frühe Fehlgeburt auch gar nicht auf. Sie gingen davon aus, dass sich ihre Periode einfach etwas verspätet habe. In der Fachwelt schätze man, dass ungefähr jede zweite bis dritte Schwangerschaft in einer Fehlgeburt innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen ende.
Schweigen nach Fehlgeburt
Und dennoch wird über das Thema kaum gesprochen. Auch Lisa M. schwieg nach ihrer ersten Fehlgeburt. Sie habe sich eingeredet, dass sie ja noch gar nicht richtig schwanger gewesen sei. Doch das sei nicht wahr gewesen. „Auch wenn du dein Kind sehr sehr früh verlierst, freust du dich auf dein Baby“, sagt sie. Mit dem positiven Test beginnen die meisten Frauen, Pläne zu schmieden, sich Gedanken zu machen, schätzt sie.
Und all das verliere man mit der Fehlgeburt. „Man ist von Beginn an schwanger“, sagt auch Klug. Die Gesellschaft denke oft, man habe ja noch nichts gesehen, also könne die Bindung von Mutter zu Kind ja noch nicht so groß gewesen sein.
Doch das sei ein Trugschluss.Nach ihrer zweiten Fehlgeburt hat Lisa M. nicht mehr schweigen können. Da sei irgendwie das Gefühl da gewesen, es rausschreien zu müssen. Sie verfasste einen langen Text und stellte ihn auf ihren Instagram-Kanal.
Ähnliche Erlebnisse
Die Resonanz sei überwältigend bewegen, berichtet sie. Viele Frauen aus ihrem Bekanntenkreis hätten ihr von ähnlichen Erlebnissen erzählt. Das habe enorm gut getan – „das Gefühl zu haben, du bist nicht allein.“ Ärztin Klug würde sich deshalb wünschen, dass viel mehr Frauen offen über ihre Fehlgeburten sprechen. „Was ich immer wieder feststelle: Das wird nicht thematisiert“, sagt sie. Das sei auch deshalb wichtig, weil viele Frauen in diese Situation denken, sie seien eine Ausnahme und hätten etwas falsch gemacht. Dabei sei genau das der Fehler.
Die Ursachen für die häufigen Fehlgeburten seien meistens genetische Fehler. Der Körper der Frau spüre, dass mit dem Erbgut von Eizelle oder Samen etwas nicht in Ordnung sei und stoße den sich entwickelnden Fötus deshalb ab, erklärt Klug. „Und egal was man anstellt, daraus wäre nie ein lebensfähiges Kind geworden“, betont die Ärztin. „Mit einer gesunden Schwangerschaft kann man einen Marathon laufen und da passiert nichts“, erklärt sie weiter. Es sei so wichtig, dass die Eltern das verstehen. Niemand habe Schuld, niemand hätte das verhindern können.
Auch Lisa M. kennt diese Schuldgefühle. „Man macht sich als Mutter irgendwie Vorwürfe“, sagt sie. Aber ihre Frauenärztin habe sie gut betreut. Sie nimmt noch einen Schluck Tee. Im Gedächtnis bleibe ihnen vor allem die Nacht vor der Operation, berichten Lisa M. und ihr Mann weiter.
Als wäre ein Loch im Bauch
Zu wissen, dass das Kind in ihrem Bauch nicht mehr lebe, sei ein grotesker, surrealer Moment gewesen. Direkt nach der Operation habe sie sich gefühlt, als ob sie ein Loch im Bauch hätte, berichtet Lisa M.. „Ich hatte irgendwie die ganze Zeit das Gefühl, ich bin beklaut worden.“
Ihr totes Kind sei nach der Operation in die Pathologie geschickt worden. Und danach haben die beiden nichts mehr gehört. Gesetzlich gebe es drei Möglichkeiten nach einer Fehlgeburt, sagt Klug. Die eine sei, den Fötus einzuschicken. Die zweite sei eine Sammelbestattung über die Pathologie. Das Mechernicher Krankenhaus arbeite beispielsweise mit der Pathologie in Düren zusammen, weshalb diese Fehlgeburten auf dem Dürener Sternenkinderfriedhof beerdigt werden. Jedes halbe Jahr gebe es einen Sammeltermin für alle betroffenen Eltern, die sich dafür entschieden. Die dritte Möglichkeit sei, die Überreste mit nach Hause zu nehmen. In Mechernich gebe es zudem zwei Mal im Jahr Erinnerungsfeiern für Angehörige von Sternenkindern in der Krankenhauskapelle und sie helfe auch gerne bei der Vermittlung von weiteren Angeboten wie Selbsthilfegruppen, sagt Klug. „Die meisten möchten nicht“, berichtet die Ärztin allerdings aus ihren Erfahrungen.
Trost in Gesprächen mit anderen Sternenkinder-Eltern
Lisa und Simon M. haben Trost in Gesprächen mit anderen Sternenkinder-Eltern gefunden. Doch das Loslassen brauche Zeit. Noch immer ertappe sie sich manchmal dabei, darüber nachzudenken, was wohl aus den beiden Kindern hätte werden können, sagt Lisa M.. Um abschließen zu können, haben sie und ihre Mann sich ihr eigenes Trauer-Ritual geschaffen: Mit ihrer Tochter haben sie Steine für ihre zwei Sternenkinder bemalt und in ihren Garten gelegt.
Ins neue Jahr startet die Familie hoffnungsvoll. Denn Lisa M. ist wieder schwanger – im fünften Monat.