Tägliche BeleidigungenRettungsdienst und Polizei klagen über Gewalt im Einsatz
- Bundesweit gibt es jeden Tag 94 Angriffe auf Polizisten.
- Verbale und körperliche Gewalt gegen Rettungskräfte nicht eingerechnet.
- „Die Zeit der Kuscheljustiz muss endlich vorbei sein“, sagt Michael Mertens, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei.
Kreis Euskirchen – Die Zahl ist alarmierend. Bundesweit gibt es laut Michael Mertens, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), im Schnitt 94 Angriffe auf Polizisten – jeden Tag. Hinzukommen die Fälle von verbaler und oder körperlicher Gewalt gegen Rettungs- und Einsatzkräfte. „Die Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren ist schlimm. Wir sind in der Gesellschaft auf dem Weg in die völlig falsche Richtung“, sagte der GdP-Chef auf einer von Markus Ramers (SPD) initiierten Podiumsdiskussion im Euskirchener DRK-Zentrum.
Beim Streit um einen Parkplatz, was schon abstrus genug sei, werde heutzutage einfach das Messer gezückt, so Mertens. Es habe eine Verrohung der Gesellschaft stattgefunden, die auch die Polizeibeamten zu spüren bekämen. Im vergangenen Jahr seien in NRW 18 873 Polizisten Ziel eines körperlichen Angriffs geworden, erklärte Mertens. Dass die Gewalt gegenüber Einsatzkräften zugenommen habe, sei dem gesellschaftlichen Wandel geschuldet: „Die Kinder werden von ihren Eltern zur Respektlosigkeit erzogen.“
Griff zum Messer? Erschreckender Alltag!
Vom „Verfall der Sitten“ berichtete auch Johannes Winckler. Der Erste Beigeordnete der Stadt Euskirchen sagte: „Unsere Politessen sind ständig verbaler, sogar körperlicher Gewalt ausgesetzt. Durchschnittlich tätigen unsere Politessen zwei bis drei Anzeigen pro Monat.“ Es sei mitunter „echt heftig“, was die Mitarbeiter des Ordnungsamts während ihrer täglichen Arbeit erlebten.
„Die Zeit der Kuscheljustiz muss endlich vorbei sein“
Michael Mertens, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), formulierte bei der Podiumsdiskussion zum Thema „Gewalt gegen Rettungs- und Einsatzkräfte“ einige Forderungen für ein größeres Sicherheitsgefühl in der Gesellschaft und ein besseres Arbeiten bei der Polizei.
„Wir brauchen mehr Personal – und zwar Polizisten und keine Tarifbeschäftigten für den Schreibtisch“, sagte Mertens. Zudem könne man die Beamten nur vernünftig fortbilden, um mit brenzligen Situationen umgehen zu können, wenn das Personal dafür vorhanden sei. Die kommenden Pensionierungswelle könne durch die Neueinstellung geradeso ausgeglichen werden: „Wir haben das schon vor Jahren gesagt. Die Demografie ist wie Weihnachten – das kommt beides nicht überraschend. Wer das nicht merkt, kein Geschenk hat, hat etwas falsch gemacht.“
Laut Mertens muss die Ausrüstung der Polizisten besser werden. „Wir bekommen jetzt endlich Bodycams. Eine Kamera schreckt immer ein bisschen ab, weil die Beweissicherung gewährleistet ist“, sagte Mertens. Die NRW-Landesregierung will bis Ende 2020 etwa 9000 dieser Kameras für den Streifendienst anschaffen. Er sprach sich zudem für Distanz-Elektroimpulsgeräte, sogenannte Taser, zum Selbstschutz der Polizisten aus. „Wir brauchen sie“, sagte der Chef der GdP.
Zu guter Letzt müsse das Zusammenspiel von Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter deutlich besser werden. Es könne nicht sein, dass die Polizei und Staatsanwaltschaft liefere und das Gericht die mutmaßlichen Straftäter wieder laufen lasse. „Die Zeit der Kuscheljustiz muss vorbei endlich sein“, erklärte Mertens. (tom)
Rettungssanitäter Tim Spey hat ebenfalls ein prägendes Erlebnis in den Knochen. Der Arloffer wurde bei einem Einsatz in Rheinbach von einem Mann während er dessen Frau behandeln wollte, körperlich angegriffen. „Ich habe ihn wegen Nötigung angezeigt. Etwas anderes blieb mir gar nicht übrig“, erzählte Spey im Gespräch mit dieser Zeitung.
Kreisbrandmeister Udo Crespin sagte während der Podiumsdiskussion, an der etwa 30 Zuhörer teilnahmen: „Die Gewaltbereitschaft gegenüber unseren Rettungskräften ist eklatant gestiegen, die Hemmschwelle rapide gesunken.“ Vor allem die verbale Gewalt habe zugenommen – aber auch die körperliche. Im vergangenen Jahr hätte ein Mitarbeiter des Rettungsdienstes stationär im Krankenhaus behandelt werden müssen, nachdem er getreten worden war.
Keine Normalität, aber auch kein Einzelfall. Insgesamt gab es 2019 bis Ende Juli laut Crespin vier gewaltsame Angriffe auf Mitarbeiter des Rettungsdienstes. Zwei weitere kamen im August hinzu. In Strempt wurde ein Notarzt körperlich angegriffen, sodass sich dieser in Notwehr verteidigen musste. Mit einem aggressiven Patienten hatte es auch die Besatzung eines Rettungswagens in Roggendorf zu tun. Der Mann hatte versucht, die Einsatzkräfte mit Faustschlägen zu verletzten. Wie viele Fälle von verbaler Gewalt es gegeben hat? „Viel zu viele“, antwortete Crespin.
Damit die Sanitäter, Notärzte und Feuerwehrleute in Notsituationen richtig reagieren, hat der Kreis bereits vor zehn Jahren ein Deeskalationstraining zum festen Bestandteil der Ausbildung gemacht. „Gewalt gegen den Rettungsdienst hat es immer schon gegeben“, sagte Rainer Brück, Leiter der Psychosozialen Notfallversorgung im Kreis Euskirchen und Deeskalationsausbilder. Wann die beginne, sei für jeden unterschiedlich. Das hänge auch von der Situation ab, in der sich der Rettungsdienstmitarbeiter befinde. Und davon, wem er gerade helfen müsse.
Deeskalationstraining fester Bestandteil jeder Ausbildung
Rettungssanitäter Daniel Heitmann berichtete, dass diese Fortbildungen enorm wichtig seien: „Wir müssen nicht Karate können, sondern müssen wissen, wie wir uns in bestimmten Situationen zu verhalten haben. Wenn wir nur noch reagieren, statt agieren können, ist es zu spät.“ Seit 30 Jahren sei er im Rettungsdienst: „Die Beleidigungen haben enorm zugenommen. Dass wir einen Vogel gezeigt bekommen, ist längst Normalität.“
Kreisbrandmeister Crespin erläuterte, dass sich die Gesellschaft verändert habe: „Der Mensch wird panisch, wenn er sein Leben nicht mehr durch Apps regeln kann. Dann ist er überfordert.“ Von den 32 000 Einsätzen, die im Kreis im Jahr gefahren werden, werden 92 Prozent vom Rettungsdienst, acht Prozent von der Feuerwehr abgearbeitet. „Die Übergriffe finden plötzlich statt und mit einer Brutalität, die es früher nicht gegeben hat“, so Crespin: „95 Prozent der Bevölkerung ist konfliktfrei, die übrigen fünf Prozent machen uns Probleme.“
Schusssichere Westen senden falsches Signal
Auf stich- oder gar schusssichere Westen verzichte man aber ganz bewusst – genau wie auf eine Bewaffnung, um sich im Notfall verteidigen zu können, sagte der Kreisbrandmeister. Für diese Entscheidung habe unter anderem gesprochen, dass die Weste bei jedem Einsatz getragen werden müsse. „Das sendet das komplett falsche Signal, weil es alles andere als deeskalierend ist“, so Crespin, der sich – genau wie alle anderen Diskussionsteilnehmer – mehr Respekt für die Einsatzkräfte wünscht.
Den forderte zum Schluss Mertens sogar innerhalb der Polizei: „Jeder Vorgesetzte macht sich doch mittlerweile einen Schlanken Fuß und gibt alles an den kleinen Beamten ab, statt sich vor ihn zu stellen, ihn zu schützen.“