Anisa Nuur flüchtete vor Krieg und Gewalt aus Somalia und lebt nun in Weilerswist. Trotz großen Verlusten und Hürden – Aufgeben ist für die junge Frau keine Option.
Ankommen – Die SerieJunge Frau aus Somalia findet in Weilerswist eine neue Heimat
„Mein Vater war Bauer, aber die anhaltende Dürre in unserem Land hat ihm alles genommen“, erzählt Anisa Nuur. Auch der schwelende Bürgerkrieg macht vor dem kleinen somalischen Dorf im äußersten Osten Afrikas nicht halt. Verschiedene Clans bekriegen sich untereinander, außerdem kämpft die militante islamistische Gruppierung Al-Shabaab gegen die Regierung. Al-Shabaab, von vielen Staaten als Terrororganisation eingestuft, will Somalia zu einem sogenannten Gottesstaat machen und sich an einem weltweiten Dschihad beteiligen.
Traumatische Flucht aus Somalia
Zwei ältere Schwestern hatten die Eltern von Anisa Nuur bereits verloren: Die eine sei von Al-Shabaab entführt worden, die andere mit etwa sechs Jahren im Chaos verschwunden, als die Familie innerhalb des Landes flüchten musste. „Alle dachten, sie sei damals ums Leben gekommen“, erzählt Anisa Nuur in ihrer gemütlichen kleinen Wohnung in Weilerswist, die sie seit kurzer Zeit bewohnt. Dass die Schwester überlebte, weiß die junge Frau erst seit kurzem.
Vor vier Jahren kam Anisa Nuur nach Deutschland. Über die Zeit davor spricht sie nicht gerne. „Ich bin durch die Hölle gegangen“, fasst sie das Erlebte knapp zusammen. Eine junge Frau aus der Nachbarschaft bringt sie eines Tages auf die Idee zu fliehen. Gemeinsam schmieden die beiden einen Plan, der schließlich gelingt und über viele Umwege und eine 18-tägige, grauenvolle Reise über das Meer in einem bis zum Bersten mit Menschen gefüllten Schiff bis nach Weilerswist führt.
Nuur: „Weilerswist ist für mich schon so etwas wie Heimat geworden“
„Weilerswist ist für mich schon so etwas wie Heimat geworden, ich fühle mich sicher und wohl und möchte gerne hierbleiben“, sagt Anisa Nuur. Geholfen habe ihr dabei vor allem die Flüchtlingsinitiative Weilerswist „mit ihren vielen lieben Menschen“. Allen voran Herbert Güttes, der Anisa Nuur bis heute mit großem Einsatz unterstützt. In Somalia hat Anisa Nuur nie eine Schule besucht – außer der Koranschule, in der aber weder Schreiben noch Lesen gelehrt wird. Der Lehrer dort konnte Englisch. Schülern wie ihr, die ihre Aufgaben schnell erledigt hatten, brachte er die Sprache ein wenig bei. Bei diesen Gelegenheiten kommt das Mädchen mit dem lateinischen Alphabet in Kontakt – und bringt sich heimlich selber Lesen und Schreiben bei.
Nach ihrer Ankunft in Deutschland besucht Anisa Nuur zunächst einen Integrationskurs, in dem sie erste Deutschkenntnisse erlangt. „Meinem Sachbearbeiter beim Jobcenter habe ich gesagt, dass ich irgendwas mit Medizin machen will“, erzählt sie und lacht, denn zugetraut habe ihr das aufgrund ihrer mangelnden Schulbildung wohl niemand. Ihr wird empfohlen, erst einmal drei Jahre eine Schule zu besuchen: „Aber das dauerte mir zu lange. Stattdessen habe ich dann an einem Projekt teilgenommen, das eigentlich für Menschen war, die in der alten Heimat eine Schule besucht hatten. In neun Monaten sollte man dort den deutschen Hauptschulabschluss erlangen können.“
Lernen um zu überleben
Drei Monate geht Anisa Nuur täglich in die Schule. Dann bricht die Corona-Pandemie herein und zwingt alle in den Distanzunterricht und damit auch in ein großes Stück Eigenverantwortung. Aufgeben ist keine Option für Anisa Nuur: „Während dieser Zeit habe ich nur gelernt und gelernt und nicht mehr viel geschlafen.“
Die junge Frau, die damals noch in der Flüchtlingsunterkunft lebt, begreift das Pauken auch als eine Art Therapie: „Ich kann alles vergessen. Wenn ich viel lerne, kann ich nicht über die Vergangenheit und meine Familie nachdenken.“
Deutsch sei wirklich eine schwere Sprache, sagt die heute 20-Jährige, aber Mathe sei noch viel schwerer. Während sie es problemlos schafft, sich Buchstaben, Worte und Grammatik anzueignen, hat sie mit Zahlen bis heute noch ihre Schwierigkeiten. „Ich habe ja nie rechnen gelernt, ich wusste nicht mal, dass es ein Einmaleins gibt!“, lacht sie. Am Ende steht auf dem Abschlusszeugnis nur in Mathe eine Vier, in allen anderen Fächern Zweier und Dreier.
Mit Willensstärke und Mut in ein neues Leben
Anisa Nuur macht mittlerweile tatsächlich etwas mit Medizin. „Ich bin im zweiten Lehrjahr zur medizinischen Fachangestellten in einer chirurgischen Praxis“, sagt sie stolz. Dass sie in Deutschland bleiben darf, steht mittlerweile fest. Allerdings war das nicht immer so: In Malta nämlich hatte sie einen Flüchtlingsstatus erhalten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Folgerichtig erhält sie zunächst einen ablehnenden Asylbescheid: Laut Schengener Abkommen wird ein Asylantrag von dem EU-Land behandelt, das der Geflüchtete zuerst betreten hat.
Glück im Unglück für Anisa Nuur ist, dass sie Ende 2018 eine schwere Bauch-Operation durchführen lassen muss. Der Termin für den Eingriff steht bereits fest, doch dann flattert der Rückführungsbescheid nach Malta ins Haus: Vier Tage vor der OP soll sie Deutschland verlassen.
Flüchtlingshelfer Güttes legt sich ins Zeug, kämpft mit allen Mitteln und Bandagen und schafft es: Anisa Nuur darf bleiben. Beim zweiten Gerichtstermin wird sogar ein dauerhaftes Rückführungsverbot ausgesprochen. „Ich habe jetzt einen Aufenthaltstitel“, so die 20-Jährige glücklich. „Und irgendwann kann ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.“
Vor wenigen Monaten wird der jungen Frau dann ein besonderes Geschenk zuteil: Über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird ihr mitgeteilt, dass ihre ältere, tot geglaubte Schwester ebenfalls in Deutschland sei. „Sie war – nachdem meine Eltern sie verloren hatten – von einer fremden Familie aufgenommen worden“, so Anisa Nuur. Mittlerweile lebt die Schwester ebenfalls in Weilerswist. „Und auch meine Mutter, die innerhalb Somalias flüchten musste, lebt“, so die junge Frau.
Willensstärke und Mut seien es, die sie zu der Person hätten werden lassen, die sie heute ist. „Mein Ziel ist es, unabhängig und selbstständig zu leben“, sagt Anisa Nuur und sieht sich auf einem guten Weg. Als Nächstes möchte sie neben dem Abschluss ihrer Ausbildung den Führerschein machen und ein eigenes Auto fahren. Und auch an das Einzige, was ihr in Deutschland nicht so gut gefällt, werde sie sich noch gewöhnen: an die langen Sommertage und die drückende Hitze, die mit der somalischen nichts gemein habe.