Beste NachbarnWie die Flutkatastrophe zwei Familien aus Weilerswist zusammenbringt
Weilerswist – Unglück und Glück, Verzweiflung und Freude. Gegensätze, die nah beieinander liegen. Gerade in Krisenzeiten merkt man, wie schnell der Wechsel von einem ins andere vollzogen wird – bestimmt vom Schicksal oder vom Leben, ganz gleich, wie man es bezeichnen will. Das Unglück einer ganzen Region in Form einer verheerenden Flutkatastrophe war zeitgleich der Nährboden großartiger Solidarität und Hilfsbereitschaft. Und so wurden vielerorts Nachbarn zu Freunden, auf die man zeitlebens nicht mehr verzichten mag.
Auch in der Rheinstraße in Weilerswist veränderte sich das Beziehungsgeflecht der Anwohner in bemerkenswerter Weise: Als der Starkregen den Pumpensumpf des Ehepaars Reitmeier am Abend des 14. Juli immer weiter füllte, waren schnell Menschen aus der Nachbarschaft vor Ort und schleppten Eimer für Eimer aus dem Loch. „Bis zur Erschöpfung “, so Ingrid Reitmeier. „Ich blieb die ganze Nacht wach, um den Pumpensumpf im Auge zu behalten“, erzählt ihr Mann Rochus.
Sämtliche Nachbarn anrufen, als das Wasser kommt
Um kurz vor 5 Uhr habe das Wasser dort drin plötzlich angefangen zu brodeln. Der 67-Jährige trat vor die Tür des Hauses, das am Ende der Rheinstraße und damit am nächsten an der Erft liegt. „In der Dämmerung sah ich die braune Brühe schon am Rand der Böschung, und sie kam so schnell auf mich zu wie eine Welle im Meer.“
Das erste, was das Ehepaar macht: sämtliche Nachbarn anrufen, herausklingeln, warnen. Rochus Reitmeier nimmt eine junge Mutter aus dem Haus gegenüber huckepack. Trägt sie auf trockenen Grund. Seine Frau Ingrid packt schnell ein paar Dinge ein: „Ich wollte nur noch weg, nicht mitanschauen, wie unser Haus absäuft.“ Treffpunkt der flüchtenden Nachbarschaft ist zunächst die Tankstelle an der höher gelegenen Kölner Straße, an der Ingrid Reitmeier seit vielen Jahren arbeitet.
Frau mit Tochter und Enkel im Urlaub
Ein paar Häuser weiter lebt das Ehepaar Wasserfuhr. Der 62-jährige Harry und Rochus Reitmeier schauen gelegentlich zusammen Fußball, fiebern beide für den FC. „Ich bin an dem Donnerstagmorgen kurz vor 6 Uhr noch zur Arbeit gefahren, habe mich aber nicht in Richtung Erft umgeschaut, sonst hätte ich es ja gesehen.“
Seine Frau Elke ist zu dem Zeitpunkt mit Tochter und Enkelchen im Urlaub. Kaum ist er da, informiert ihn ein Nachbar, was gerade zu Hause passiert: „Ich bin sofort zurückgefahren. Vom Restaurant Pfefferschote auf der Kölner Straße bis nach Hause habe ich zweieinhalb Stunden gebraucht.“ Das Haus der Familie Wasserfuhr hat nicht ganz soviel abbekommen: Rund 40 Zentimeter hoch steht das Wasser im Keller.
Wochenlanges Schuften nach der Flut
Rochus und Ingrid Reitmeier können nicht mehr zurück in ihr Haus. Die braune Brühe hat das Kellergeschoss geflutet, nur ein Fingerbreit vor dem Erdgeschoss hat das Wasser gestoppt. „Die erste Woche nach der Flut konnten wir bei Harrys Cousine übernachten“, erzählt Ingrid Reitmeier. In den folgenden zwei Monaten gehen sie und ihr Mann täglich die 100 Meter zum Haus der Familie Wasserfuhr, um dort zu duschen. „Bei uns gab es ja kein warmes Wasser mehr.“
Es folgen Wochen, in denen von morgens bis abends geschuftet wird. Großen Anteil daran, dass nicht nur Reitmeiers Haus vom Schlamm befreit und entrümpelt wird, hat Kevin Hofmann. Der 41-jährige Sohn von Elke und Harry Wasserfuhr trommelt seine ehemaligen Weilerswister Freunde und Fußballkollegen zusammen.
Längst mehr als Nachbarschaftshilfe
Sein Arbeitgeber gibt ihm 14 Tage frei, um im Krisengebiet Weilerswist helfen zu können. „Ohne diese Truppe wären wir bei weitem nicht so schnell aus dem Dreck rausgekommen“, meint Rochus Reitmeier. Kevin Hofmann hat Kontakte – besorgt Generatoren, Pumpen, Werkzeuge, Anhänger und alles weitere, was man in einer solchen Lage benötigt. Harry Wasserfuhr: „Wir haben in dieser Zeit sicher 100 Touren Schutt weggefahren aus den Häusern der Nachbarschaft.“
Die Menschen der Rheinstraße rücken zusammen, verbringen zwangsläufig viel Zeit miteinander. Und vor allem die Familien Reitmeier und Wasserfuhr sind in einer Weise füreinander da, dass es längst mehr ist als Nachbarschaftshilfe.
„Hauptsache, ihr geht nicht so weit weg“
„Jeden Abend haben wir mit den Helfern und Nachbarn im Wendehammer der Rheinstraße gegrillt, zusammengesessen, gelacht und geweint“, erzählt Ingrid Reitmeier. Richtig vertraut sei das gewesen, wie eine „erweiterte Familie“. Solange, bis die Tage wieder kälter wurden, hätten sie diese abendlichen Treffen fortgesetzt. Niemand habe darauf verzichten wollen.
Für Rochus Reitmeier seien vor allem die Gespräche in dieser Zeit sehr wichtig gewesen. „Das hilft kolossal“, sagt er. Ihn habe das Erlebte nämlich sehr mitgenommen. „All das Schöne und Unbekümmerte von vorher ist mit der Flut verschwunden“, erzählt Rochus Reitmeier. Aus diesem Grund haben er und seine Frau Ingrid beschlossen, das Haus an der Rheinstraße zu verlassen und wegzuziehen. Der 67-Jährige: „Ich will hier nicht mehr sein, ich schaue aus dem Fenster und sehe die braune Brühe auf mich zukommen.“
„Hauptsache, ihr geht nicht so weit weg – da hätte ich nämlich entschieden was dagegen“, kommentiert Elke Wasserfuhr die Zukunftspläne des befreundeten Paares. Aber das haben Reitmeiers nicht vor. Auch sie wollen die Nähe von Harry und Elke Wasserfuhr nicht mehr missen. „Dieser Umzug“, sagt Ingrid Reitmeier, „wird dieser Freundschaft nichts anhaben können. Da sind wir uns alle sehr sicher.“
Erzählen Sie uns Ihre Geschichte
Seit zwei Jahren leben wir im Ausnahmezustand. Zur Corona-Pandemie mit all ihren Einschränkungen kam die Flutkatastrophe – das Leben zahlreicher Mitbürgerinnen und Mitbürger hat sich durch diese Einschnitte drastisch verändert.
Doch Not schweißt zusammen. Viele Menschen berichten von großer Solidarität, von kleinen und großen Hilfen, von funktionierenden Dorfgemeinschaften und nachbarschaftlicher Unterstützung. Häufig sind daraus Freundschaften erwachsen. Erzählen Sie uns, wer Ihnen in dieser krisenhaften Zeit geholfen hat, wo Nachbarschaft zu echter Freundschaft wurde. Stellen Sie uns die Menschen aus ihrer Straße, ihrem Dorf, ihrem persönlichen Umfeld vor, die Ihnen ganz besonders ans Herz gewachsen sind.
„Ziemlich beste Nachbarn“ heißt die Serie, die mit guten Nachrichten punkten will, von denen es in den letzten beiden Jahren viel zu wenige gab. Wenn auch Sie zu besten Nachbarn wurden, schreiben Sie uns eine kurze Mail an redaktion.euskirchen@ksta-kr.de oder redaktion.gemuend@ksta-kr.de, wir melden uns. (hn)